Viel größere Dimension als gedacht – DAK-Studie zu Kinderkuren veröffentlicht

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Kreis Lippe/Berlin. Die Krankenkasse DAK in Berlin hat unlängst die Studie „Kur oder Verschickung? Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ von Professor Dr. Hans-Walter Schmuhl vorgestellt. Es ist die erste Studie, die eine Krankenkasse bei einem unabhängigen Forscher beauftragt hat.

Der Historiker Hans-Walter Schmuhl hat die Geschichte der Kinderkurheime aufgearbeitet, in die DAK-versicherte Kinder geschickt wurden. Die 300 Seiten lange Studie ist ein erster Schritt, das Schicksal von vielen Millionen ehemals verschickten Kindern zwischen 1950 und 1990 aufzuarbeiten, die auch den Kreis Lippe betreffen.

„Das Ineinandergreifen von strukturellen Faktoren, den pädagogischen Vorstellungen der Erzieherinnen und dem Kinderkur-Konzept schuf den Nährboden für die Entstehung einer Subkultur der Gewalt“, fasste Studienautor Schmuhl die Bedingungen in den Heimen zusammen, unter denen Jahrzehnte Unfassbares geschehen ist. „Es handelte sich eindeutig nicht um Einzelfälle“, betonte der Professor, der freiberuflich an der Universität Bielefeld arbeitet.

Im Rahmen der Studie recherchierte Schmuhl unter anderem im Zentralarchiv der DAK. Darüber hinaus führte er ausführliche Interviews mit früheren Kurkindern, darunter auch viele NRW-Betroffene. Denn eines der drei DAK-Vertragsheime lag im nordrheinwestfälischen Bad Sassendorf. Darüber hinaus gab es 65 Vertragsheime der Krankenkasse.

Viel größere Dimension als gedacht

Schmuhl erklärte gegenüber dem Citizen Science Projekt-Kinderverschickungen-NRW (CSP-KV-NRW) des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen-NRW e.V.“ (AKV-NRW e.V.): „Seit über einem Jahrzehnt erforsche ich die Sonderwelten am Rande des bundesdeutschen Sozialstaates: Fürsorgeerziehungsanstalten, Heime für Menschen mit Behinderungen und Psychiatrien. Aber erst durch die Befassung mit den Kinderkurheimen ist mir bewusst geworden, dass das Problem der Subkulturen der Gewalt eine viel größere Dimension hat als ursprünglich gedacht.“

Millionen von Kindern hätten tiefe Verletzungen ihres Selbst davongetragen. Welche gesellschaftlichen Folgen das habe, darüber wäre weiter nachzudenken.

Entschuldigung durch den DAK-Chef

Der DAK-Vorstandsvorsitzende Andreas Storm bat die Betroffenen, die in DAK-Vertragsheimen

Leid erfahren haben, um Verzeihung: „Es ist mir ein aufrichtiges Anliegen, mich bei den Betroffenen, die Leid erfahren haben, von Herzen zu entschuldigen.“

Die Erfahrungen von Kindern in Kurheimen, die Gewalt erlebt hätten, seien schrecklich und hätten oft langfristige Auswirkungen auf ihr Leben.

Es sei wichtig, dass die Gesellschaft sich insgesamt dieses dunklen Teils der bundesdeutschen Geschichte bewusst sei und sich für eine bessere Zukunft einsetze, in der Kinder vor jeglicher Form von Gewalt geschützt seien.

Unabhängige Aufarbeitung zur Nachahmung empfohlen

„Die Anerkennung der Tatsache, dass es sich um systematische Missstände handelte, ist ein Schritt in Richtung Versöhnung und Gerechtigkeit für die Betroffenen. Es ist zu hoffen, dass andere Krankenkassen und Institutionen diesem Beispiel folgen und sich ebenfalls der Aufarbeitung und Wiedergutmachung von vergangenen Verbrechen stellen“, forderte Detlef Lichtrauter, Vorsitzender des AKV-NRW e.V.

„Misshandlung und Missbrauch von Kindern darf niemals toleriert werden, egal in welchem Kontext“, ergänzte Lichtrauter.

Manne Lucha, der amtierende Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz der Länder, forderte die anderen Träger auf, sich auch um Aufarbeitung zu bemühen: „Diesem Beispiel sollten viele weitere Akteure folgen, damit wir aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen.“ (lwz)


Hintergrund

Das Citizen Science Projekt-Kinderverschickungen-NRW (CSP-KV-NRW) des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen-NRW e.V.“ (AKV-NRW e.V.) hat sich zum Ziel gesetzt, die unheilvolle Geschichte der „Verschickungskinder“ aus NRW-Perspektive aufzuarbeiten und Betroffene zu unterstützen.