Noch sind Schulferien. Mein Mann und ich genießen die letzten Tage der unterrichtsfreien Zeit. Wir schlafen aus, genießen die Natur und lesen. Und so las ich jüngst einen kleinen Spiegelbestseller mit dem Titel „Demokratie braucht Religion“.
Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt darin zwei unterschiedliche Sichtweise auf die Welt. Die eine Sichtweise nennt er den Modus der Resonanz. Die andere Sichtweise nennt er den Modus der Aggression. Ein Mensch im Aggressionsmodus hat seine gesamte Wahrnehmung auf Ziele, Gewinne und Vorteile eingestellt.
Er hört nicht aktiv (empathisch), er hört verzweckt und gleicht dabei permanent ab, ob und inwieweit ihn das Gehörte „weiterbringt“. Ein Mensch im Aggressionsmodus ist unablässig „auf Jagd“. Das Gehörte (Wahrgenommene) wird zur Munition seines nächsten Beitrages/Angriffs. Sein Hören ist ein aggressives Hören.
Demokratie, so Hartmut Rosa, lebt davon, dass jeder mündige Mensch eine Stimme und (!) ein hörendes Herz hat. Das hörende Herz will nicht jagen, es möchte Erkenntnisse gewinnen und aus der Tiefe verstehen, es möchte sich von dem, was es hört, berühren, bewegen und verändern lassen. Um das Phänomen des hörenden Herzens zu beschreiben, erzählt Hartmut Rosa eine biblische Geschichte (1. Könige 3,16-28).
Zwei Frauen haben entbunden. Das Kind der einen verstirbt bei der Geburt, das Kind der anderen ist gesund und kräftig. Die Mutter des verstorbenen Kindes stiehlt das Kind der anderen. Diese fordert ihr Kind zurück. Die Frau des verstorbenen Kindes behauptet fest, ihr Kind lebe und das Kind der anderen sei verstorben.
Der weise König Salomo soll ein Urteil sprechen. König Salomo, der sich bei der Einweihung des Tempels ein weises, verständiges und hörendes Herz von Gott erbeten hatte, befiehlt seinen Dienern, das Kind auf der Stelle zu zerschneiden. Die wahre Kindesmutter schreit auf: „Gebt dieser Frau das Kind, aber zerschneidet es nicht!“ Die andere ruft: „Zerschneidet es!“ (Wenn ich es nicht haben kann, soll es keine von uns haben!)
Da weiß der weise König Salomo, wer die wahre Mutter ist. Klug und geschickt hat er an die Mutterliebe appelliert. Er hat die Liebe und den Schmerz des Mutterherzens schlagen gehört. Salomo war offen und empfangsbereit für die Haltungen beider Frauen und für die unverfügbare Weisheit und Inspiration Gottes.
Er ließ sich bewegen und wurde aus diesem Hören heraus selbstwirksam und handlungsfähig. Menschen im Modus der Resonanz suchen nach der Wahrheit, nicht nach dem eigenen Vorteil. Sie suchen nach Gemeinschaft in Gerechtigkeit und Frieden. Sie spiegeln damit bewusst oder unbewusst den uralten biblischen Traum des Schalom (hebräisch: Gerechtigkeit und Frieden).
In einer Gesellschaft, in der wir in allen (!) Lebensbereichen permanent nur noch auf Jagd zu sein scheinen (Die Familie, als Schutz- und Resonanzraum gedacht, hat längst begonnen, weitläufig zu zerfallen.), zerplatzt dieser Traum, noch bevor er auch nur angeträumt wurde. Demokratie braucht hörende Herzen und Räume der Resonanz.
Nach Ansicht Hartmut Rosas sind es bisher die Kirchen gewesen, die in ihren Strukturen Räume eröffneten, in denen Menschen unverzweckt mit dem Unverfügbaren (Gottes Wirken und Handeln, Gottes inspirierende Ideen), mit sich selbst und miteinander in Bewegung kommen konnten. Kirche hat bisher Werte transportiert, ohne die eine Gesellschaft im Aggressionsmodus verarmen, erkalten und erstarren würde.
Hartmut Rosa, der sich selbst als kirchenfern beschreibt, schätzt damit einen Wert, anstatt (aggressiv) einen Schatz zu werten, der ihm fremd ist und nicht zu seinem Lebenskonzept gehört. Damit zeigt er eine zutiefst demokratische Haltung (der Resonanz). Noch ein paar Tage unterrichtfreie Zeit. Ich werde die Idee des hörenden Herzens und Hartmut Rosas Gedanken über die Resonanz mit in das nächste Schuljahr nehmen.
Bis dahin werde ich immer wieder in den Resonanzmodus wechseln, wenn das Jagen überhandnimmt. Weil Resonanz verbindet, erfrischt und nährt, weil sie glücklich macht, verwandelt und heilt.
- Redaktion
- Kontakt
Bereits zu Schulzeiten entdeckte Yves Brummel seine Leidenschaft für Journalismus, die er während seiner knapp neunjährigen Tätigkeit als Freier Mitarbeiter in der Lokalsportredaktion des Westfalen-Blatts in Gütersloh vertiefen durfte. Nach Stationen unter anderem in den Medienabteilungen von Arminia Bielefeld und Dr. Kurt Wolff sowie in der Sportkommunikation der Arvato-Medienfabrik landete er nach Abschluss seines Masterstudiums im Bereich Journalismus und Medienkommunikation als Freier Redakteur bei Lippe aktuell. Zudem war der gebürtige Gütersloher zu dieser Zeit für den Postillon in Lage tätig. Darüber hinaus war er auch für das Westfalen-Blatt in Schloß Holte-Stukenbrock im Einsatz. Seit 2023 schreibt er für die LWZ, zunächst als Freier Redakteur und seit Januar 2024 als Redaktionsleiter.