Horn-Bad Meinberg-Leopoldstal/Honiara. LWZ-Redakteur Dennis Mattern ist mit seiner Familie zu den Salomonen gereist, um herauszufinden, ob an den vielen Geschichten auf der Insel über vermeintlich heute noch lebende Riesen etwas dran ist. Im Reisegepäck hat Dennis Erlebnisse und Eindrücke, die er in einer mehrteiligen Lesereise schildert.
Zurück am Dolphin View Beach beginnen wir also eine weitere Expedition in die Berge im Zentrum der Insel zu planen. Während einer Taxifahrt nach Honiara lerne ich den Ranger Molton Rasile kennen. Wir kommen ins Gespräch und ich erfahre, dass er die Insel infolge seiner Arbeit sehr gut kennt und natürlich auch die Riesen für ihn ein Begriff sind.
Er erzählt mir von einem von ihm selbst durchgeführten Interview mit einem Mann namens Solo, der genau wie dessen Vater über Jahrzehnte regelmäßig mit einem Riesen zusammengetroffen ist. Ich möchte Näheres darüber wissen, wir verabreden uns und ich erhalte den nächsten Schwung höchst interessanter Informationen: Molton zeigt mir seine Niederschriften einer Befragung Solos kurz vor dessen Tod von September 2018.
Darin gibt er zu Protokoll, dass im Glauben der Einheimischen die Riesen so alt sind wie die Salomonen. Die Riesen haben keine Mutter, da sie von den Inseln selbst geboren wurden. Insgesamt soll es zwölf Riesenstämme, sogenannte Big Lines, auf der Hauptinsel Guadalcanal geben. Darunter gesellen sich in der Hierarchie die sogenannten Small Lines, die als weitere Sub-Clans den zwölf großen Stämmen zugeordnet sind.
Die Riesen haben die Insel in einzelne Territorien aufgeteilt und leben mit dem Menschenstamm, der jeweils auf ihrem Gebiet lebt, in einer jahrhundertealten Symbiose. Einige der Riesen besitzen laut Solo riesige Hunde, etwa der Riese Vali vom Berg Popomanaseu, der mit seinem Hund Vangalou in einer symbolträchtigen und engen Verbindung leben soll. In der Lebensgeschichte von Solo und seinem Vater heißt es dazu:
„Eines Tages wurde Solos Vater von einem Riesen mitgenommen (1942) und lebte mit ihm für einen Monat im Dschungel. Bei seiner Rückkehr gab der Riese ihm einige Besitztümer: Livo (Zahn), Ivu (Haar) und Radi (Wanderstab). Nachdem der Vater seine Berufung abgelegt hatte, übergab er die Gegenstände zunächst an Solos älteren Bruder, der sie dann im Jahre 2000 an Solo weitergab.“
Molton erklärt mir, dass Solo im vergangenen Jahr (2022) verstorben ist. Bis zu seinem Interview im September 2018 traf sich Solo regelmäßig mit dem Riesen vom Berg Tatuve, etwa drei- bis fünfmal im Jahr. Das bei einem dieser Treffen übergebene Haar bewahrt die Familie in einem Fläschchen auf. Es soll rot sein und die Besonderheit an den Tag legen, sich in der Flasche zu bewegen, fast so, als sei es lebendig.
Das deckt sich mit der immer wieder gehörten Behauptung, dass dem Haar der Riesen, das nicht selten bis zum Boden reicht, viele Eigenschaften und Kräfte innewohnen. Der Wanderstab ist nach der Beschreibung Moltons nicht länger als ein gewöhnlicher Wanderstock. Ihm zufolge nutzen die Riesen den Stab für energetische Zwecke entweder als Waffe oder setzen ihn zur Heilung ein.
Auf der Rückseite des Dokumentes befindet sich ein zweites Interview mit Solo, das nur circa ein Jahr später am 18. August 2019 durchgeführt wurde. Auf dieser Seite sind alle Namen der zwölf Riesen vom Stamm Kakau verzeichnet, darunter stehen ein paar Sätze in der Stammessprache der Kakau geschrieben. Molton erklärt mir, dass es sich dabei um einen rituellen Text handelt, mit dem man die Kraft eines Riesenstammes für Herausforderungen im eigenen Leben anrufen und um Unterstützung bitten kann.
Ich möchte wissen, wie das funktioniert und ob die Durchführung eines solchen Rituals nur bestimmten Menschen vorbehalten ist. Molton erklärt, dass jeder Riesenstamm mit einer signifikanten Pflanze auf der Insel verbunden ist und diese verehrt wird. Dann schaut er vom Strand in den Vorgarten meines Bungalows und zeigt auf ein Gewächs. „Das ist interessant. Schau mal! Direkt vor deiner Haustür wächst die Chili Ruka.
Das ist genau die Pflanze, die du für den Stamm Kakau brauchst. Und ja, auch du darfst das Ritual durchführen.“ Ich schmunzle erheitert und denke an unsere Gastgeberin Kuvien, die gebürtig aus der Bergregion dieses Riesenstammes kommt. Sie hatte mir bereits erzählt, dass sie die Pflanzen am Bungalow aus ihrer Heimat mit zur Küste gebracht hatte, da sie um deren Bedeutung weiß. Für das Ritual geht man zu der Pflanze und sucht sich ein Blatt aus.
Dann bespricht man das Blatt, indem man alle Riesen des Stammes aufzählt, ein paar Sätze aufsagt – ähnlich einem Zauberspruch – und anschließend seine Absichten hineingibt. Als nächstes wird das Blatt gepflückt und eine bestimmte Muschel, die alte Währung der Insel, darin eingewickelt. Das Blatt und die Muschel trägt man so lange mit sich, wie es der Absicht nach erforderlich ist. Am Ende wird das verwelkte Blatt wieder am Stamm derselben Pflanze vergraben.
Molton nennt mir Beispiele, wofür die Einheimischen das Ritual einsetzen: Neben der Steigerung von physischer Kraft bei körperlicher Arbeit und der Bewältigung von Trauer sind auch Konflikte zwischen den Stämmen ein häufiger Grund. Wir kommen zum Ende unseres langen Gespräches und Molton erlaubt mir, die erste Seite seines Dokuments abzufotografieren und zu veröffentlichen.
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Dennis Mattern entdeckte die Leidenschaft fürs Schreiben bereits früh auf seinen Auslandsreisen. Ob mit dem Fahrrad um die halbe Welt oder zu Fuß von Europa nach Afrika, die vielen Eindrücke hielt er stets in seinen Reisetagebüchern fest. Seit 2019 schreibt der Betriebswirt als Freier Redakteur neben dem Kurier Verlag auch für die LWZ. 2021 erschien sein erstes Buch „Wandelnde Gedichte – Der Weg des Schöpfers“, indem es um die eigene Kreationskraft und das Erreichen von persönlichen Zielen geht. Es folgte eine Ausbildung zum Copywriter (Werbetexter) an der Freedom Writer Academy. 2023/2024 berichtete die LWZ beinahe ein Jahr lang über seine Expedition zu den Salomonen, die den Dokumentarfilm „Der Ruf – Eine Reise ins Land der Riesen“ hervorgebracht hat.