Massentierhaltung in Lippe: Tierschutzverein fordert artgerechte Haltung und Empathie

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Der Verein Tierhilfe Lippe und Umgebung sucht dringend einen Pensionshof für fünf gerettet Kühe. Foto: Mathias Lindner

Kreis Lippe. Für die einen, die Haustiere, werden hierzulande jährlich mehrere Milliarden Euro ausgegeben, für die sogenannten Nutztiere sieht es derweil schlechter aus.

Circa zwei Millionen dieser Tiere werden täglich getötet (tausend Masthühner sterben in der Minute) und hatten zuvor kein umhegtes Leben, sondern in der Regel ein qualvolles, ob in der Fleisch- und Milchindustrie, im Versuchslabor, im Zirkus oder im Sport. Die Liste ist lang, denn der Mensch ist da sehr einfallsreich, wenn es um das Aus- und Benutzen der Tiere geht.

„Wir brauchen eine Abwendung von der industriellen Massentierhaltung hin zu einer artgerechten Haltung. Es müsste viel mehr Aufklärung betrieben werden, schon ganz früh sollte es tiergestützte Pädagogik geben – gerade mit der Gruppe der sogenannten Nutztiere. Die Empathie ist leider verloren gegangen, obwohl es sich um lebendige, mitfühlende Wesen handelt – wir müssen lernen, sie als wertvolle Persönlichkeiten wahrzunehmen“, meint die erste Vorsitzende des Vereins Tierhilfe Lippe und Umgebung (THL), Christiane Kressmann.

Ehrenamtlich setzt sich der Verein gerade für die Rettung von Groß- und Landtieren ein. Die geretteten Tiere kommen durch Beschlagnahmungen eines Veterinäramtes oder dank Hinweisen auf Tierschutzwidrigkeiten aus privater Hand zum THL. Der Zustand der Tiere ist meist äußerst desolat.

„Bei der Übernahme sind die Tiere häufig krank, schlecht ernährt, verhaltensauffällig oder sogar durch Misshandlungen gezeichnet. Diese Tiere bringen wir bei privaten Pflegestellen unter und bezahlen Unterhalt und Tierarztkosten; dort werden sie von unseren aktiven Mitgliedern liebevoll versorgt und gepflegt – zum Beispiel arbeiten wir mit dem Lebenshof Lilly zusammen“, erklärt Kressmann.

„Unser Ziel ist es, sie nach einer oftmals langwierigen und kostenintensiven Pflegezeit an Tierfreunde in eine artgerechte Haltung auf Lebenszeit zu vermitteln. Alle unsere Tiere, denen aus Alters- oder Gesundheitsgründen ein erneuter Umzug nicht mehr zugemutet werden kann, bleiben ihr Leben lang auf dem Tierschutzhof oder in Pflegestellen und bekommen dort ihr Gnadenbrot“, ergänzt sie.

Zurzeit werde zusammen mit dem Tierschutzverein Unsere Hände für viele Pfoten dringend ein Pensionshof im Kreis Lippe und Umfeld gesucht, und zwar für fünf Kühe im Alter von zwei bis zehn Jahren; Pensions- und Tierarztkosten würden übernommen – wichtig sei, dass die Kühe ein gutes, artgerechtes Leben führen könnten.

Mit dieser Arbeit sei leider nur einer Handvoll Tieren zu helfen, bedauert Kressmann, die den Agrarlobbyismus für eine gefährliche Einflussnahme in die politische Gesetzgebung hält, der verhindere, dass sich irgendetwas zum Wohle des Tieres verändern könne.

Unternehmen, die einzig am Profit und der Umsatzsteigerung interessiert seien, würden unerträgliche Verhältnisse für Mensch und Tier schaffen. Allerdings sollte sich auch das Konsumverhalten der Menschen ändern, meint die engagierte Tierschützerin, denn vom Tierwohl über die Gesundheit des Menschen bis hin zum Klima gäbe es schwerwiegende Gründe, auf Produkte aus der Massentierhaltung zu verzichten.

„Wir müssen kleinschrittig anfangen und sensibilisieren, denn wie wir aus der Vergangenheit wissen, geht es ja auch anders. Wir haben damals nicht gelitten, bloß weil es nur einmal in der Woche Fleisch gab, und zwar den Sonntagsbraten. Und die Tiere hatten einen ganz anderen Stellenwert, waren keine Nummern, sondern bekamen Namen – es war viel mehr ein Geben und Nehmen. Man wollte, dass es den Tieren, von denen man lebt, gut ging“, so Christiane Kressmann.

„Die Prioritäten, die der Mensch heutzutage setzt, sind sehr aufs Ego bezogen: Für den Urlaub, die Kleidung oder Weihnachten wird nicht so aufs Geld geschaut, aber im Supermarkt kauft man Produkte zum Dumpingpreis; obendrein ist Gemüse teurer als billiges Fleisch oder billige Milchprodukte. Die Anonymität der Nutztiere leistet da Vorschub“, fährt Kressmann fort.

Zwar sei das Land übersät mit Massentierhaltungsställen, doch das Leid fände versteckt hinter Mauern statt. Das sei gut für den Umsatz und gut für den Verbraucher, damit ihm der Appetit nicht vergehe.

Denn wer hätte noch Lust auf die leckere Kalbsleberwurst, wenn er wüsste, dass ein Kuhkind, das zur Mast bestimmt sei, sofort von der Mutter getrennt werde und bis zur achten Lebenswoche in kleinen Boxen untergebracht werde, ohne die mütterliche Berührung, ohne jeglichen Kontakt mit Artgenossen, ohne Herumtoben auf einer Wiese – verurteilt zur Einsamkeit und Bewegungslosigkeit, um dann im Alter von drei bis sechs Monaten auf einem qualvollen Kindertransport zum Schlachter gebracht zu werden.

Welche Gänseleberpaste würde einem nicht im Halse stecken bleiben, dächte man darüber nach, dass den Tieren in einem Alter von nur wenigen Monaten dreimal täglich ein Metallrohr in die Speiseröhre gerammt wird (was oft zu Verletzungen führt) und sie so auf qualvolle Weise gezwungen werden, das Vielfache von ihrem eigentlichen Nahrungsbedarf aufzunehmen, damit sich die Leber auf das Sechs- bis Zehnfache vergrößert.

Uns Menschen müsse man dafür zum Beispiel täglich zwölf Kilogramm Spaghetti in die Speiseröhre quetschen. Obendrein würden den Gänsen die Federn bei lebendigem Leibe ausgerissen, damit wir unseren Weihnachtsbraten genießen könnten.

Alexander Hershaft, der den Tag der Nutztiere ins Leben gerufen hat, erinnert dieses Vorgehen an das wohl dunkelste Kapitel der Menschheitsgeschichte: Er wurde als Fünfjähriger mit seiner Familie ins Warschauer Ghetto verschleppt; die meisten seiner Familienangehörigen überlebten nicht.

Jahrzehnte später wird Hershaft für eine Firma in einen Schlachthof bestellt, um das Abwasser zu untersuchen; er sieht Berge von toten Tierkörpern und fühlt sich bestürzt an sein eigenes Schicksal erinnert. Seitdem kämpft er als engagierter Tierschützer für die Rechte von Nutztieren.