Detmold. Aileen Schneider (Jahrgang 1993) ist mehrfache Stipendiatin im Bereich Komposition und hat in ihrem noch jungen Leben schon bemerkenswerte Spuren ihres künstlerischen Schaffens gelegt. Neben ihrer Tätigkeit als Musiktheater-Regisseurin ist sie auch professionelle „Spoken Word“- Poetin und war 2022 Hessenmeisterin im Poetry-Slam.
Für eine Auftragsarbeit des Landestheaters Detmold ist die gebürtige Rheinland-Pfälzerin in Lippe gewesen, um ein Stück rund ums Thema Selbstfindung zu kreieren – entstanden ist das Stück mit dem Titel „Ich, ich, ich“.
Noch dreimal kommt es in diesem Jahr zur Aufführung: am Montag, 18. November, sowie am 10. und 14. Dezember. Im LWZ-Interview spricht sie über ihre Arbeit, aber auch über Themen wie Selbstfindung und darüber, was sie jungen Menschen in der heutigen Zeit empfiehlt.
Lippische Wochenzeitung (LWZ): Wie könnte eine Definition Ihrer eigenen Person lauten?
Aileen Schneider: Heutzutage definiert man sich oft durch seine Leistungen, seine Errungenschaften, seine Zeugnisse, und gerade das ist etwas, was ich über die vergangenen Jahre versucht habe, abzulegen. Die Frage nach der Kernpersönlichkeit ist eine sehr innerliche geworden und ich frage mich eher, was ist mir wichtig, was wünsche ich mir und wie verbringe ich die kurze Zeit, die uns auf der Welt gegeben ist, und das versuche ich auf einer zwischenmenschlichen Ebene. Das Wichtigste ist für mich das fluktuierende Sein, das es quasi unmöglich macht, vollständig zu definieren, wer man ist; in jedem Kontext bringt man eine andere Facette von sich in den Fokus und in verschiedenen Räumen agiert man unterschiedlich.
LWZ: Gab es für das zu entwerfende Stück Vorgaben?
Schneider: Kaum, denn es gab einen sehr weit gefassten Themenwunsch ohne Plot-Vorgabe. Lediglich die Besetzung, nämlich die Sopranistin Laura Zeiger, der Bass-Bariton Florian Zanger und der Schauspieler Dominic Betz sowie der Komponist Linus Mahler standen fest. So gab es viel Raum für Ideen rund um das Thema der Identität.
LWZ: Als Kammeroper ist das Stück ausgewiesen – fehlt jungen Leuten nicht oftmals der Zugang zu dieser Art Musik?
Schneider: Ich würde die Form hier als Musiktheater bezeichnen, bei dem das gesungene und gesprochene Wort gleichwertig vorhanden ist.
LWZ: Wie sind Sie bei der Stückentwicklung vorgegangen?
Schneider: Mir war es wichtig, sowohl einen Zugang als auch eine Zugehörigkeit des Zuschauers zu den Protagonisten und dem Geschehen auf der Bühne zu ermöglichen – ein sich Wiedererkennen in dem anderen. Und um gerade junge Menschen und deren Anliegen zu berücksichtigen, wurde schon sehr früh im Prozess eine Schulklasse mit einbezogen, um zu den behandelten Themen Rückmeldungen zu bekommen; auch konnten Ideen und Wünsche eingebracht werden, die ich dann später ausgewertet und bei meiner Arbeit am Stück zum Teil habe einfließen lassen.
LWZ: Wie hat sich die Zusammenarbeit mit den Künstlern gestaltet?
Schneider: Theater ist bei dem Entstehungsprozess eine kommunikative Form des Austauschs und immer von zwei Seiten ausgehend; das schließt auch die Darsteller ein, denn die müssen ja in die jeweilige Rolle schlüpfen und sie authentisch verkörpern – so sind deren Rückmeldungen wichtiger Bestandteil der konkreten Probenarbeit.
LWZ: Haben es junge Menschen heutzutage schwerer mit der Selbstfindung, wenn sie, wie Studien zeigen, circa 70 Prozent der Tageszeit digital verbringen?
Schneider: Ich denke, dass das Thema der Selbstfindung ein sehr archaisches ist, selbst im Orakel von Delphi steht „erkenne dich selbst“ – es ist eine grundsätzliche Frage, sobald der Mensch sich seiner selbst bewusst wird, denn Selbstfindung hat auch mit Lebenssinn zu tun – was kann man anfangen mit diesem kurzen Leben, das man hat. Allerdings ist die Definitionsnot, die heutzutage besteht, sehr akut geworden, früh müssen Entscheidungen getroffen werden, die Berufs- und Privatleben betreffen und wie man sich in diesen Beziehungen definiert – schafft man es überhaupt seine Identität zu finden? Betont man einen Teil seiner Persönlichkeit so stark, dass andere Anteile nicht zur Geltung kommen? Allein das Zusammenspiel von Körper und Geist, von Gefühlen und vermeintlichen Realitäten wird durch die Präsentationsnot im digitalen Bereich in bestimmte Bahnen gelenkt: Optimierung, ob im Aussehen oder was das Können betrifft, man muss besonders sein, auffallend und herausstechend, und das kommt einem Identitätsverlust gleich.
LWZ: Die Suggestion übernimmt das Ruder?
Schneider: Die Suggestion, wie man sein müsste und wer man sein könnte, ist omnipräsent. In einer Szene des Stücks wird in einer Therapiesitzung der Therapeut zum Spiegelbild des Patienten, sinnbildlich für die Behinderung des suggestiven Spiegelbilds, das den klaren Blick auf das Selbst und damit die ureigene Entwicklung verhindert, vergleichbar mit dem Social-Media-Spiegel.
LWZ: Was würden Sie jungen Menschen raten?
Schneider: Ich würde empfehlen offen zu sein für alles, was einem begegnet, sich ohne Angst ins Leben begeben und sich Zeit lassen für alle Entscheidungen und sich ohne Druck den Möglichkeiten zuwenden. Mein bisheriges Leben könnte ich als sehr leistungsorientiert bezeichnen, das den Selbstwert von der erbrachten Leistung abhängig gemacht hat; für die Zukunft soll mein Weg weniger forciert werden, sondern einfach entstehen dürfen – weniger Zeitdruck, mehr Entspanntheit, dabei auf sein Bauchgefühl, seine innere Stimme vertrauen, die einem die Sicherheit für den richtigen Zeitpunkt gibt. Ein Lebensmotto von mir stammt von dem amerikanischen Komponisten Steve Reich, einem Pionier der Minimal Music: „Wie wenig, dachte ich, braucht es, ein ganzes Leben zu füllen“ – das hat mich seit meiner Kindheit begleitet.
Das Gespräch führte Mathias Lindner
- Redaktion
- Kontakt
Der gebürtige Aachener Mathias Lindner liebt das Kreativsein und hat sich in vielen kulturellen Sparten ausprobiert: Musik, Zeichnen, Gestalten, Schreiben, Radio machen und seit zwölf Jahren mit Leidenschaft Filmen – am liebsten Tiere und Tanz. Bei allem, was er macht, ist ihm eines besonders wichtig: Der Humor, der ihm auch dann wieder auf die Beine hilft, wenn er als Berichterstatter in einem Schweinemaststall gelandet ist.