Kreis Lippe/Detmold. Für so manchen sind sie von Kindesbeinen an Begleiter durchs Leben: Engel. Sie überbringen Botschaften und beschützen die Menschen, zieren Poesiealben und Kinderbücher.
Jedoch insbesondere in der Weihnachtszeit haben die geflügelten Wesen Hochkonjunktur – schweben am Weihnachtsbaum, nehmen Wunschzettel in Empfang oder künden von Frieden. Und noch etwas tun sie: Jahr für Jahr lassen sie sich im Advent im Schaufenster der Bahnhof-Apotheke in Detmold nieder.
Wer sie dort sieht, für den bekommt das Wort „himmlische Heerscharen“ eine neue Bedeutung. Denn es sind Hunderte. „Genaugenommen 380 Stück“, sagt Oliver Müller, der Herr über die Heerscharen ist. „Naja, so ungefähr 380 …“, lenkt er lachend ein. Denn genau gezählt hat er sie schon länger nicht.
Wobei es auf einen Engel mehr oder weniger ohnehin nicht ankommt. Denn auch ohne das Wissen der genauen Anzahl gehen dem Betrachter schlichtweg die Augen über. Egal, wohin der Blick schweift, überall sitzen, stehen oder hängen kleine Engel. Und sie alle gehen einer Passion nach: Sie musizieren.
Elf Punkte mit Weltruhm
Apropos Passion: Die Leidenschaft für die Figürchen hat Oliver Müller von seinen Eltern und Großeltern „geerbt“. Rund sechs Jahrzehnte sei es inzwischen her, dass die ersten der kleinen, etwas rundlichen, freundlich dreinblickenden Gesellen mit den grünen Flügeln Einzug im Hause Müller gehalten haben, berichtet der Apotheker.
Flügel, die jeweils elf weiße, von Hand aufgetupfte Punkte in verschiedener Größe zieren, bei denen Kenner sofort im Bilde sind, dass es sich um die weltbekannten Grünhainichener Musikantenengel von Wendt und Kühn handelt. 1923 auf den Markt gekommen, avancierten die sogenannten Elfpunkte-Engel mit ihrer kindlichen Anmut zu einem internationalen Aushängeschild des erzgebirgischen Kunsthandwerks.
Ihre Schar wuchs über die Jahrzehnte durch immer neue Variationen – nicht nur in der ostdeutschen Produktionsstätte, sondern ebenso bei den Müllers. Und auch 2024 hat das große Orchester wieder Zuwachs bekommen: Ausgestattet mit einer Stimmgabel, sorgt das neue Mitglied in der großen Engelsschar für den richtigen Ton.
Sehen, staunen und die Zeit vergessen
„Obwohl die Anordnung keinem festen Schema folgt – bis sie alle ihren Platz im Ladenfenster gefunden haben, vergehen locker anderthalb Tage“, berichtet Oliver Müller. Und er weiß auch, dass etliche Detmolder schon auf diesen Termin warten. „Unsere Engel gehören für viele zur Vorweihnachtszeit dazu. Das ist längst Tradition. Sie nicht auszustellen, das würde Protest auslösen“, ist sich der Apotheker sicher.
Und so kehren die kleinen, wahlweise mit blonden oder brünetten seitlichen Zöpfchen erhältlichen Figuren in ihren glänzend weißen Hemdchen, an deren Kragen und Ärmeln sich hellblaue Details befinden, jedes Jahr zuverlässig im November mit Beginn der Andreasmesse an die Bahnhofstraße zurück.
Vollendete Handwerkskunst
Auch Oliver Müller betrachtet sie immer wieder gerne. Staunt, wie zart sie sind. Die pausbäckigen Gesichter, mit haarfeinen Strichen gezeichnet. Wie die Flügel handbemalt. Klitzekleine Teilchen, die den musizierenden Engeln Leben einhauchen, fügen sich zu einem filigranen Ganzen. Und das, was sie in den Händen halten, ist erst richtig winzig: Flöte, Trompete oder Posaune. Akkordeon, Triangel, Glocke. Sie fiedeln und singen, blasen und orgeln.
Während es sich der eine mit seiner Geige auf einem Bänkchen bequem gemacht hat, zupft ein anderer die Harfe. Nicht weit davon tragen zwei Alphornbläser zum Konzert bei, während mittig einer von mehreren Dirigenten den Taktstock schwingt. Ein heiteres Getümmel, still und doch beredt. Nichts blinkt und lärmt. Keine Animation in Dauerschleife, kein grelles Geglitzer, ohne das es heutzutage andernorts nicht mehr zu gehen scheint, heischen um Aufmerksamkeit.
Dort reichen Anmut, Design, Ausstrahlung und handwerkliche Perfektion. Die Engelchen stehen einfach da, wirken allein durch ihre schlichte Präsenz und entfalten in ihrer naiven Unbeschwertheit einen bezaubernden Charme. Bis sie Mitte Januar wieder behutsam in ihr Sommerquartier aus Kartonage und Seidenpapier gebettet werden und liebevoll eingehüllt einem nächsten Auftritt entgegen träumen.
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Recherchieren, interviewen, berichten – dafür brennt Karen Hansmeier. Für Wörter. Für Sätze. Für Sprache. Für Inhalte. Fundiert und verständlich. Prägnant und feinfühlig. Sachlich oder emotional. Passgenaue, aber darum nicht minder schöne Formulierungen und wertige Layouts sind ihr Ding – sei es online „geklickt“ und „gewischt“ oder Seite für Seite per Hand geblättert. Insbesondere das Berichten über „Kultur“ in ihren vielfältigen Erscheinungsformen sowie die Begegnungen mit „Land und Leuten“ sind die Aspekte ihres Berufs, die ihr das Herz aufgehen lassen.