Wiederholt sich die Geschichte? Große Inflation in Lage vor 122 Jahren

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Wenn es vor 102 Jahren schon einen Frühjahrsmarkt in Lage gegeben hätte, dann hätte ein bunter Luftballon locker 100 Millionen Mark gekostet. Tatsächlich war den Lagensern aber nicht nach Frühling, Kirmes, guter Laune und Party zumute. Denn die „Hyperinflation“ verursachte eine gewaltige finanzielle Krise, in der sogar Menschen verhungert sind. Da ließ die politische Krise nicht lange auf sich warten. Fotomontage: Hajo Gärtner

Kreis Lippe/Lage. Gibt es einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Notlage und politischem Extremismus? Diese Frage ist unter Historikern längst geklärt. Am Vorabend jeder Revolution macht sich eine große wirtschaftliche Krise breit. Ohne sie wäre gar kein Treibstoff für den Motor der sozialpolitischen Umwälzung da.

Ein explosives Gemisch stellt den Zündstoff bereit für jenen politischen Prozess, der anschließend außer Kontrolle gerät. Diese Dynamik kann man in Lage gut studieren. Während der Hyperinflation vor ziemlich genau 102 Jahren geriet das gesellschaftliche Leben in der Zuckerstadt in einen reißenden Strudel, der ein paar Jahre später ein Jahrhundert-Desaster auslöste.

Lokalhistoriker Rolf Schwegmann – er starb voriges Jahr im Alter von 80 Jahren – erzählt im „Historischen Jahrbuch Lage 1923“, herausgegeben von Hans C. Jakobs („Lippe Verlag“): „Ich erinnere mich an die Erzählung meiner Großmutter, die vormittags um 10.30 Uhr mit einem Waschkorb voller Geldscheine zum Bäcker ging, um dafür ein Brot einkaufen zu können, bevor mit dem neuen Dollarkurs zum Mittag die Scheine nur noch als Makulatur hätten verwendet werden können.“

Die Nachbarn von Schwegmanns Oma tragen Geldscheine körbeweise in den Einkaufsladen um die Ecke oder karren die Scheine mit der Schubkarre durch die Straßen. Noch während sie unterwegs sind, verfallen ihre Geldscheine dramatisch an Wert. So bezahlen sie, als sie vor dem Verkaufstresen stehen, 233 Milliarden Mark für ein Roggenbrot und 4,8 Billionen Mark für ein Kilo Rindfleisch.

Die sozialen und politischen Konsequenzen erscheinen aus heutiger Sicht unausweichlich: Wenig später nach Omas Einkauf organisiert die DVP („Deutsche Volkspartei“) im Rathaussaal einen „Vaterländischen Abend“ und kurz darauf an gleicher Stelle eine Veranstaltung der „Volksgemeinschaft Lage“. Im Juni gründen Technikum-Studenten eine „Ortsgruppe NSDAP“. Noch im selben Jahr – in der November-Ausgabe – berichtet die örtliche Zeitung von „Schüssen“ in der Bahnhofsgegend und der Friedrichstraße, die Lokalhistoriker Schwegmann aber nicht zwingend der NSDAP-Gruppe zurechnet.

Nichtsdestotrotz gewinnen die Nazis – wie überall in Deutschland – in den fünf Folgejahren massiv an Gefolgschaft. Am Ende feiert Adolf Hitler im Schicksalsjahr 1933 bei seinen 17 lippischen Wahlkampf-Auftritten überragende Erfolge. Dabei verkauft er das Lipperland als „germanisches Kernland“ und die Externsteine als „germanische Kultstätte“.  Die NSDAP erreicht in der Lipper Landtagswahl 39,5 Prozent der Stimmen, was ihr eine relative Mehrheit verschafft.

Obwohl dies keine absolute Mehrheit darstellte, konnte Hitler – nach dem temporären Rückgang seiner Wahlerfolge – dieses Ergebnis propagandistisch als Game-Changer verkaufen. Dies trug dazu bei, den Druck auf Reichspräsident Paul von Hindenburg zu erhöhen, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, was schließlich am 30. Januar 1933 geschah.

Bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 holte die NSDAP zwar nicht die absolute Mehrheit, doch zusammen mit der DNVP („Deutschnationale Volkspartei“) konnte sie den Reichstag dominieren (siehe Abbildung). Hitler nutzte diesen relativ kleinen Vorsprung, um andere Parteien aus dem Parlament zu drängen und politische Gegner auszuschalten.