Verfemt. Verfolgt. Verboten. – Detmolder entdeckt Partitur aus NS-Zeit

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Neugier und Forschergeist: Gregor van den Boom freut sich auf die Uraufführung des von ihm wiederentdeckten Streichquartetts aus der Feder von Otto Martin. Foto: Karen Hansmeier

Detmold. Gregor van den Boom ist Geigenlehrer und Bratschist. Ein Kenner seiner Materie und einer, der die klassische Musik leidenschaftlich liebt. Den Namen Otto Martin hatte er trotzdem noch nie gehört.

Erst als er bei Recherchen nach Musik mit Bezug zu Westfalen zufällig auf eine mit Bleistift geschriebene Partitur aus dem Jahr 1932 stieß, wurde er auf den ihm bis dato unbekannten Komponisten aufmerksam. Überrascht und fasziniert von der Qualität des Werkes, war seine Neugier geweckt. Kurze Zeit später war er Feuer und Flamme.

Streichquartett Nr. 1 – Repro der Originalpartitur. Abbildung: Gregor van den Boom

Im Interview mit der LIPPISCHEN WOCHENZEITUNG berichtet der Detmolder Musiker und Pädagoge darüber, wie er das nie gedruckte Streichquartett aus dem handschriftlichen Manuskript in computersatzgeneriertes Notenmaterial transferiert hat und spricht über seine Pläne, es erstmals für die Öffentlichkeit hörbar zu machen – 93 Jahre nach seiner Entstehung.

LIPPISCHE WOCHENZEITUNG (LWZ): Herr van den Boom, wie kam es zu dem „Otto-Martin-Projekt“?
Gregor van den Boom: Musikalische Neugier treibt mich schon seit langem um und lässt mich in meiner freien Zeit auf die Suche nach vergessener Musik gehen. Schon immer habe ich mich für nicht beachtete, aber gute Komponisten interessiert, da ich es für wichtig halte, das musikalische Leben immer wieder mit neuen alten Werken zu bestücken und damit diese vor dem Vergessen zu bewahren. Die Coronazeit gab mir die Gelegenheit, wegen meiner reduzierten Unterrichtstätigkeit im Westfälischen Musikarchiv Hagen auf Spurensuche zu gehen. Bei der Recherche dort bin ich auf Otto Martins Manuskripte und Drucke aus der Zeit des Ersten Weltkriegs gestoßen. Die Musik kam mir auf den ersten Blick so interessant vor, dass ich beschloss, mich mit diesem Komponisten näher zu beschäftigen. Ich hatte den Eindruck, einen Komponisten mit wirklich eigenständiger Tonsprache gefunden zu haben. Dieser Eindruck hat sich meines Erachtens auch bestätigt.

LWZ: Erzählen Sie ein bisschen aus dem Leben Otto Martins. Wer war er? Was machte ihn aus?
van den Boom: Otto Martin war neben seiner Tätigkeit als Komponist, Pädagoge, Gründer und Leiter der Musikschule Lünen in Westfalen. In dieser doppelten Position, die Musik von zwei Seiten anzugehen, finde auch ich mich etwas wieder, da ich ebenso die Balance zwischen Unterrichten und Konzertieren suche. Tragisch ist sein Ringen um Nichtausgrenzung zu Beginn der NS-Zeit. In verschiedenen Zeugnissen weist er immer wieder auf seine nicht-religiöse Erziehung hin. Was mich zudem sehr bewegt hat, ist das Wissen, dass Otto Martin schon früh im Leben erblindete. Er hat seiner Ehefrau jede einzelne Note diktiert. Viele tausend Töne. Man kann sich vorstellen, wie viel Zeit das gekostet hat. Das dauerte viel länger als das Komponieren an sich. Ein einzigartiger kreativer Prozess.

LWZ: Was reizt Sie an Otto Martin und seiner Musik?
van den Boom: Ich glaube, seine Musik ist von außerordentlich hoher Güte. Martin hat ein ausgesprochen sicheres harmonisches Empfinden und klare formale Strukturen in seiner Musik. Außerdem reizt mich ganz persönlich sein Stil. Ich empfinde die Musik als sehr abwechslungsreich und vielfältig. Interessant, wenn auch nicht völlig ungewöhnlich, ist auch der Verlauf seiner stilistischen Entwicklung. Vom romantischen Gestus der beiden Liederzyklen op. 4 und op. 5 bis hin zum expressionistischen Streichquartett ist es ein weiter Weg, den es sich lohnt mitzugehen.

LWZ: Konnten Sie mit Menschen sprechen, die Otto Martin noch gekannt und erlebt haben?
van den Boom: Bisher nicht. Die sehr freundliche Stadtverwaltung in Lünen, wo er ja lange Zeit gelebt hatte, konnte mir bedauerlicherweise auch nicht weiterhelfen. Und für persönliche Recherche vor Ort fehlt bisher die Zeit. Insofern bin ich, was die biografischen Details angeht, leider noch nicht sehr weit.

LWZ: Wenn Sie die Werke und das Leben von Otto Martin (oder aber auch anderer verfolgter, geflüchteter und bedrohter Künstler) einstudieren, deren Schicksal uns bekannt ist – wie macht sich diese Geschichte in Ihrer Arbeit mit dem Werk bemerkbar?
van den Boom: Wir ausführenden Musiker bemühen uns immer, die Musik – egal welcher Komponisten – so genau und schön wie möglich aufzuführen. Das heißt, der Notentext bildet die unumstößliche Grundlage. Im Fall des Streichquartetts von Otto Martin ist die Grundlage ein mit Bleistift geschriebenes Manuskript, das ich mittels Computersatz in ausführbares Notenmaterial transkribiert habe. In diesem besonderen Fall hat nur der letzte Satz klare Dynamik- und Tempoangaben durch den Komponisten erhalten. Die anderen Sätze habe ich versucht, im Vergleich zu diesem Satz ähnlich zu gestalten. Martin arbeitet sehr akribisch mit dynamischen und artikulatorischen Nuancen. Er überlässt nichts dem Zufall. Das habe ich in der editorischen Arbeit mit den ersten drei Sätzen auch zu erreichen versucht.

LWZ: Musik lässt sich nicht mit Worten beschreiben, man muss sie hören. Dazu ist am 19. Juli Gelegenheit, wenn Sie das Streichquartett und ausgewählte Lieder in der Klosterkirche Blomberg vorstellen werden. Doch vielleicht können Sie trotzdem kurz versuchen, unseren Lesern zu vermitteln, welche Tonsprache sie erwartet.
van den Boom: Die beiden Liederzyklen „Wanderlieder“ op. 4 nach Texten von Ludwig Uhland und die „5 Gesänge“ op. 5 nach Texten von Justinus KernerNikolaus Lenau, Gottfried Keller, Heinrich Heine und Otto Julius Bierbaum, beide 1916 veröffentlicht, sind ganz klar der deutschen Spätromantik verpflichtet, vielleicht in dem Sinne, wie sie auch der frühe Arnold Schönberg oder Hugo Wolf geschrieben haben könnten. Das Streichquartett, entstanden 1932, wäre, wollte man einen Vergleich ziehen, am ehesten mit Hindemiths mittleren Quartetten zu vergleichen.
Die klar umrissene Rhythmik, die schroffen Motive der Ecksätze, sowie die groteske Geisterfantasie des Scherzos sprechen aber trotzdem eine ganz eigene Sprache. Mein persönlicher Höhepunkt ist der 2. Satz des Streichquartetts (Andante). Zum einen wegen seiner tiefen Melancholie, die nie ins Rührselige abgleitet, sondern meiner Meinung nach Martins Vorahnung einer sich anbahnenden Zukunft ausdrückt, zum anderen wegen seiner Vorwegnahme eines Motivs aus Schostakowitschs Cellokonzert Nr. 1. Diese tonale Koinzidenz zweier ähnlich unterdrückter Komponisten aus völlig unterschiedlichen Kulturkreisen ist sicherlich nur zufällig, nichtsdestotrotz bemerkenswert.

Streichquartett Nr. 1 – Partitur des neuen Notensatzes. Abbildung: Gregor van den Boom

LWZ: Mit Ihrem Projekt haben Sie einen Dialog zwischen künstlerischer Praxis und wissenschaftlicher Forschung eröffnet und leisten zugleich erinnerungskulturelle Arbeit. Sie erschließen mit der Quellensichtung sowie Übertragung der Noten sozusagen die Dinge im Inneren, um sie dann nach außen hin strahlen zu lassen. Sehen Sie sich als eine Art Vermittler?
van den Boom: Auf jeden Fall. Es ist außerordentlich wichtig, dass wir uns das Schicksal verfolgter Künstler, seien es Juden oder andere, aus welchen Gründen auch immer „unerwünschter“ Personen, ins Gedächtnis rufen und als kleinen Beitrag zu ihrer Rehabilitation wenigstens ihre Werke wieder zugänglich machen, wenn wir zu ihrer Person direkt schon keinen Zugang mehr haben. Mir kommt es vor, als sei Otto Martin, wie so viele seiner Kollegen, von den Zeitläuften verschlungen worden. Ein „Stolperstein“ der Musikgeschichte. Völlig zu Unrecht und in grausamer Weise ist er durch die Maschinerie des Dritten Reiches aussortiert worden. Unsere gesellschaftliche Aufgabe ist es, diesen Menschen ihre Stimme wiederzugeben. Otto Martin hat komponiert, weil er sich dazu berufen fühlte. Und er hat dies mit großer Akribie und echtem Ausdruckswillen getan.

Das Gespräch führte Karen Hansmeier.


Uraufführung in Marienmünster

Die Uraufführung des Streichquartetts Nr. 1 von Otto Martin findet im Rahmen des Klostersommers OWL am Samstag, 19. Juli, um 19.30 Uhr, in der Abteikirche Marienmünster statt. Zudem erklingen seine Lieder für Bariton und Klavier op. 4 und op. 5 aus dem Jahr 1916.
Es musizieren das „Quartetto d’archi Bielefeld“ mit Erika Ifflaender-Gehl und Anna Scherzer (Violinen), Gregor van den Boom (Viola) und Marina Maestri-Foron (Violoncello) sowie Markus Köhler (Bariton) und Chihiro Masaki (Klavier). Jazzintermezzi mit dem Ensemble „Truetone 8000“, bestehend aus Georg N. Schmitt (Saxophon, Gitarre), Sebastian Müller (Klavier), Marius Strootmann (Kontrabass), Juri Beier (Schlagzeug) setzen behutsam kontrastreiche Akzente und eröffnen einen Dialog zwischen den Zeiten. Das Programm wird am Sonntag, 20. Juli, um 19 Uhr, in der Kirche Maria im Weinberg in Warburg wiederholt. Der Eintritt ist jeweils frei.