Hängt im „Stumpfen Turm“ der Kirche St. Johann in Lemgo: die älteste datierte lippische Glocke aus dem Jahr 1398. Foto: Wikimedia

Kreis Lippe. „Süßer die Glocken nie klingen …“ – so beginnt ein bekanntes Weihnachtslied. Glockenklang steht dort für Friede und Weihnachtsfreude. Glocken begleiten die Menschen seit jeher auf ihrem Lebensweg.


Und auch zum diesjährigen Weihnachtsfest werden die in Alter, Form und Klang unterschiedlichsten Glocken in den Türmen der lippischen Kirchen von der Geburt Christi künden und zu den Gottesdiensten einladen.

Einer, der ganz nah dran ist am Glockenklang, ist Dr. Claus Peter, Glockensachverständiger der Evangelischen Kirche von Westfalen, der lippischen Landeskirche und des westfälischen Amtes für Denkmalpflege. Er berät Kirchengemeinden rund um die gewichtigen Klangkörper, damit sie möglichst lange zuverlässig ihren Dienst tun können.

Dr. Claus Peter (oben rechts) ist Experte in allen Belangen rund um Glocken. Fotorechte: Claus Peter

Die LIPPISCHE WOCHENZEITUNG traf den in Hamm ansässigen Experten und erhielt nicht nur Einblick in ein sehr komplexes und vielschichtiges Berufsfeld, sondern erfuhr auch, dass Lippe den höchsten Anteil mittelalterlicher Glocken in Westfalen aufweist (21 Stück) und dass das richtige Läuten eine verantwortungsvolle Aufgabe ist.

LIPPISCHE WOCHENZEITUNG (LWZ): „Süßer die Glocken nie klingen, als zu der Weihnachtszeit …“ Was ist dran an der Aussage? Klingen Glocken zur Weihnachtszeit „süßer“ oder anders als sonst?
Claus Peter: Nein, eine Glocke klingt das ganze Jahr gleich. Warum es den Menschen an Weihnachten möglicherweise so vorkommt, als klänge ein Geläut anders, ist objektiv nicht erklärbar. Vielleicht ein Hauch von Weihnachtszauber … Glockenläuten ist sehr emotional besetzt.

LWZ: Welche Fähigkeiten/Qualifikationen muss man mitbringen, wenn man Glockensachverständiger werden möchte?
Peter: Glockensachverständige müssen Wissen aus ganz verschiedenen Fachgebieten mitbringen. In meine Beratungs- und Forschungsdienstleistungen im Rahmen der Glockenkunde fließen musikalische, denkmalpflegerische und kunsthistorische sowie architektonische und technische Aspekte ein. Ebenso spielen Kenntnisse der Liturgie, Kirchengeschichte und Theologie eine Rolle.

LWZ: Wie sind Sie Glockensachverständiger geworden und was umfasst Ihr Aufgabenbereich?
Peter: Ich bin in Bamberg aufgewachsen, dort finden sich auf engstem Raum circa 21 Kirchen und Kapellen mit mehr als 40 Glocken aus acht Jahrhunderten. Das Glockenläuten gehört zu meinen frühesten akustischen Erfahrungen und hat mich nie losgelassen, auch nicht, als ich später als Musiklehrer im Schuldienst war.
Seit 1975 bin ich für das westfälische Amt für Denkmalpflege tätig. Hier geht es in erster Linie um eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme und die Beratung in allen Glocken, Glockenstühle und mechanische Turmuhren betreffenden Denkmalpflegeangelegenheiten. Für die Kirchengemeinden bin ich Berater in allen die Glocken und ihr Umfeld betreffenden Belangen. Dazu kommen gutachterliche Tätigkeiten.
Zudem bin ich eingebunden in die Aus- und Fortbildungen zum Glockensachverständigen, die an den Hochschulen für Kirchenmusik (HfK) in Heidelberg, Halle und Regensburg angeboten werden.

„Festgemauert in der Erden …“: Wie schon 1799 in Friedrich Schillers berühmtem Gedicht beschrieben, sind auch die drei Glocken der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Cappel-Istrup 2023 im Lehmformverfahren gegossen worden. Foto: Iris Beverung

LWZ: Welche Materialien werden typischerweise für Glocken verwendet und wie beeinflussen Legierung, Größe und Form den Klang?
Peter: Das typische Material für Glocken ist Zinnbronze (circa 78 bis 80 Prozent Kupfer und 20 bis 24 Prozent Zinn), die sogenannte Glockenbronze.
Seltener sind andere Legierungen. In Zeiten der Materialknappheit nach den Weltkriegen und zur Kostenverringerung wurden Glocken vor allem zwischen dem Ende des 19. und bis Mitte des 20. Jahrhunderts aus Ersatzwerkstoffen gefertigt: Gussstahl oder Eisenhartguss zum Beispiel.
Der Werkstoff, aus dem die Glocke hergestellt wird, beeinflusst maßgeblich die Klangentfaltung der Glocke. Da ist die „klassische“ Glockenbronze unübertroffen.
Sie hat einen vollen, nachklingenden Klang. Gusseisen hingegen bedingt aufgrund seiner Porosität eine geringere Lebensdauer der Glocke und wegen seines Elastizitätsmoduls eine kürzere Abklingdauer und eine härtere Klangentfaltung.

LWZ: Worin unterscheiden sich historische von modernen Glocken?
Peter: Historische und moderne Glocken unterscheiden sich hauptsächlich in ihrer Herstellung. Historische Glocken aus Bronze gefertigt, mit handwerklichen Methoden, bestechen oft durch unverwechselbaren reizvollen Klang, der jedoch manchmal nicht den klanglichen Normen entspricht, aber die „Persönlichkeit“ einer Glocke ausmacht.
Das Material ist bis heute dasselbe geblieben. Die Bronzeglocke ist nach wie vor die häufigste. Heutzutage lassen sich Glocken allerdings präziser fertigen und werden mitunter computergestützt auf eine korrekte Abstimmung innerhalb eines Geläuts hin optimiert.

LWZ: Warum haben Glocken Namen und Widmungen?
Peter: Die meisten Glocken haben bereits beim Guss Widmungen erhalten. Mit der Christianisierung wurde die Glocke zum Symbol der Verkündigung des Evangeliums, ihr Läuten im Mittelalter fest in kirchliche Rituale eingebunden. Man versah sie mit Inschriften sakralen Inhalts, häufig mit den Namen der Evangelisten oder Heiligendarstellungen, ebenso mit Inschriften, die den Wunsch nach Frieden ausdrückten oder das Böse abwehren sollten. Inschriften und Ornamente sind also weit mehr als nur Schmuck, sie transportierten ebenso künstlerische und (bei weltlichen Glocken) politische Botschaften.

LWZ: … und was hat es mit der Weihe einer Glocke auf sich?
Peter: Kirchenglocken werden aus den vorgenannten Gründen geweiht, um ihnen eine besondere sakrale und symbolische Bedeutung zu geben. Eine solche Segnung ist ein festlicher Ritus, der die Glocke in den Dienst der Kirche stellt.

LWZ: Welches ist Lippes älteste Glocke? Welches die jüngste?
Peter: Die ältesten Glocken findet man unter anderem in Lemgo in der Kirche St. Nicolai. Im Südturm hängen drei mittelalterliche Glocken aus dem 13. Jahrhundert. Die beiden größeren Glocken zählen wegen ihrer Klangschönheit zu den wertvollsten Denkmälern ihrer Art in Westfalen und zu den schönsten Glockenpaaren des 13. Jahrhunderts.
Ebenso gehört eine Glocke in Barntrup zu den ältesten Glocken in Lippe. Auch sie ist wahrscheinlich im 13. Jahrhundert gegossen worden. Die älteste Glocke mit Jahreszahl beheimatet der „Stumpfe Turm“ der Kirchengemeinde St. Johann in Lemgo. Sie stammt aus dem Jahr 1398, ist die älteste datierte lippische Glocke und eine der reinsten und feinsten Oktavglocken Westfalens.
Lippes drei „jüngste“ Glocken stammen aus dem Jahr 2023 und hängen im Glockenstuhl der evangelisch-reformierten Kirche Cappel.

Hoch über den Menschen schwebend, sollen sie eine Verbindung herstellen zwischen Himmel und Erde: Glocken. Symbolfoto: Pexels

LWZ: Glocken „rufen“ nicht nur zum Gottesdienst. Welche Läuteanlässe gibt es noch?
Peter: Richtig, Glocken läuten hauptsächlich zu Gottesdiensten und anderen kirchlichen Anlässen wie Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen, aber auch als Gebetsruf für alltägliche oder traditionelle Zwecke wie das Angelusläuten zu den Gebetszeiten. Weitere Anlässe sind das Einläuten von Festtagen, das Gedenken an bestimmte Ereignisse wie Karfreitag, oder Anlässe wie das Gedenken an die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki oder das „Friedensläuten“. Je nach Bedeutung des Anlasses läutet man mit allen Glocken (Vollgeläute), nur mit einigen Glocken (Teilgeläute) oder auch Einzelglocken. Früher diente das Geläut auch der Orientierung der Menschen. Es gliederte den Tag und gab, sprichwörtlich, den Takt vor.

LWZ: Für viele Menschen ist der tägliche Ruf der Glocken emotional besetzt, kündet von Heimat oder fordert zum Innehalten und Gedenken auf – zumal in der Weihnachtszeit. Für andere ist es unzumutbarer Lärm. Wie ist es mit Klagen über das Läuten?
Peter: Klagen über Glockenläuten gibt es, jedoch sind es nur wenige, drei oder vier im Jahr sind schon viel. Manche sind wegen unzumutbarer Lautstärke oder zu langer Läutedauer berechtigt, manche aber ideologisch konnotiert, gegen Kirche grundsätzlich gerichtet. Generell unterliegen das Glockenläuten und der Stundenschlag den Richtlinien der TA Lärm (Anm. d. Red.: Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm, eine Verwaltungsvorschrift in der Bundesrepublik Deutschland, die dem Schutz der Allgemeinheit und der Nachbarschaft vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Geräusche dient). Innerhalb dieser Richtlinien ist das Läuten der Kirchengemeinden im Rahmen der Religionsausübung uneingeschränkt gestattet. Dazu gehört auch nächtliches Läuten, wie zum Beispiel anlässlich der Christmette. Sakrales Geläut ist geschützt durch die Religionsfreiheit und die geltende Rechtsprechung.

LWZ: Haben Sie eine Lieblingsglocke?
Peter: Das ist eine nicht leicht zu beantwortende Frage … Glocken sind so verschieden. Es gibt nicht die eine. Sie können auch nicht Beethoven mit Bach vergleichen. Beides ist tolle Musik. So ist das auch mit den Glocken. Es gibt viele „besondere“, aber nicht die eine Glocke. Das komplett erhaltene Dreiergeläut der eben bereits erwähnten Kirche St. Nicolai in Lemgo etwa ist so eine Besonderheit. Aber meine Lieblingsglocke – nein.

LWZ: Was sollten unsere Leser unbedingt noch zum Thema Glocken wissen?
Peter: Im Frühjahr wurden „Glockenguss und Glockenmusik“ im Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen. Die Glockenmusik und der Glockenguss vereinen handwerkliches Wissen, musikalische Fertigkeiten und tief verwurzelte Traditionen. Das setzt alle, die mit Glocken zu tun haben, in die Pflicht, das Ihrige dazu beizutragen, das seit Jahrhunderten das kulturelle Profil von Stadt und Land prägende Instrument im Bewusstsein zu erhalten.


Das Gespräch führte Karen Hansmeier.