Deutsche Verfassung – lippischer Einfluss: 75 Jahre Verfassungskonvent

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Ankunft am Neuen Schloss: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Ehefrau Elke Büdenbender, Bayerns Landtagspräsidentin Ilse Aigner und Ministerpräsident Markus Söder (von links). Foto: Annette Heuwinkel-Otter

Kreis Lippe/Herrenchiemsee. Der 75. Jahrestag des Verfassungskonvents, die Wiege des Grundgesetzes, wurde am Donnerstag, 10. August, im prächtigen Spiegelsaal des Neuen Schlosses, auf der Insel Herrenchiemsee in Bayern gefeiert. Ein Lipper, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, hielt dabei die Festrede. Was viele nicht wissen: Eine Ostwestfälin, Frida Nadig aus Herford, stritt nach dem Konvent im Parlamentarischen Rat für den Artikel 3: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“

Die Wichtigkeit der Verfassung sollte durch die Feierlichkeiten in einer prunkvollen Umgebung herausgestellt werden. Deshalb wählten die Gastgeber das Neue Schloss auf Herrenchiemsee mit seinem Spiegelsaal aus. Eingeladen hatten Ilse Aigner, als Präsidentin des Bayerischen Landtags, sowie Markus Söder als Bayerischer Ministerpräsident. 400 Gäste waren geladen. Viel Prominenz, darunter auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Ehefrau, die Juristin Elke Büdenbender.

Steinmeier erklärte in seiner Festrede, in welchem desolaten Zustand Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen sei. Er verwies auf die neun Millionen Vertriebenen und Flüchtlinge aus dem Osten kommend, auf die zerstörten Städte, die Wohnungsnot, den Hunger der Menschen sowie die zu erwartende, unausweichliche Teilung Deutschlands.

In dieser schwierigen Situation und Stimmung erteilten die westlichen Alliierten den Auftrag, die Regeln für das Zusammenleben in Westdeutschland neu aufzustellen. Mitglieder eines Verfassungskonvents sollten diese Aufgabe meistern. Herausgekommen ist das Grundgesetz.

„Das Grundgesetzt hat uns viel Gutes gebracht“, erklärte Steinmeier. Aber er mahnte und warnte auch: „Die Bürger sind Verfassungspatrioten, sie müssen die Verfassung leben. Die Demokratie muss wehrhaft sein, gegenüber seinen Feinden. Verfassungsfeinde können nicht integriert werden.“ Ähnliche deutliche Worte fanden auch Ilse Aigner und Markus Söder in ihren Ansprachen.

Die Gäste waren festlich gekleidet, in Tracht oder in Uniform erschienen. Nach den Redebeiträgen folgte ein Empfang unter dem blauen, sonnigen Himmel. Ein herrlicher Seeblick, weiß eingedeckte Tische und Köstlichkeiten aus dem Chiemsee. Der für Deutschland wichtige Jahrestag wurde gebührend gefeiert, jedoch nicht ohne kritische Worte und Rück- und Ausblicke.

Die mahnenden Worte der Redner waren nicht die einzigen an diesem Tag. Die „Letzte Generation“ mahnte ebenfalls und gab im Park eine Pressekonferenz für mehr Engagement in Sachen Klimaschutz. 

Verfassungskonvent – „ohne“ Frauen

Bei bestem Wetter ging es danach zum Alten Schloss. Dort hatte das Verfassungskonvent getagt, in einem einfachen Speisesaal. Die Sitzordnung der Beteiligten war ersichtlich. Für Nordrhein-Westfalen hatte Theodor Kordt teilgenommen, ein Diplomat in der Nazizeit, NSDAP-Mitglied und späterer Botschafter der Bundesrepublik Deutschland.

Dabei wird das Spannungsfeld deutlich, in dem sich die Mitglieder des Konvents bewegten und miteinander arbeiten mussten. Auch Steinmeier verwies in seiner Rede darauf und erklärte NS-Täter, NS-Verfolgte und sogar ein KZ-Überlebender wie Hermann Brill saßen an einem Tisch. Frauen, und das bedauere er, fehlten jedoch bei den 33 Experten des Konvents.

„Das Verfassungskonvent selbst erfolgte ohne Frauen“, ist häufig zu lesen. Diese Aussage stimmt nicht ganz. Bei den Sachverständigen, die nach einem festgelegten Stundenplan tagten, sprachen keine Frauen als Expertinnen mit. Dabei waren dennoch welche.

Sie arbeiteten im Hintergrund als Sekretärinnen und schrieben die Nächte durch, damit die Tagungen unproblematisch und zügig vonstattengehen konnten. Ohne die Frauen hätten die Verfassung nicht in nur 13 Tagen erarbeitet werden können. Das Argument darf selbstbewusst von Frauen ins Feld geführt werden.

Der erarbeitete Entwurf für das Grundgesetz wurde später endgültig beschlossen im Parlamentarischen Rat in Bonn. Immerhin waren dort vier Frauen dabei, von 65 Mitgliedern insgesamt. Eine der vier sogenannten Mütter des Grundgesetzes stammt aus Herford: Friederike Nadig, Frieda genannt, SPD-Mitglied.

 Die vier Mütter des Grundgesetzes

Im Parlamentarischen Rat saßen damals wie bereits erwähnt vier Frauen, drei kamen aus Nordrhein-Westfalen, eine davon aus Ostwestfalen: Friederike „Frieda“ Nadig, Gesundheitspflegerin und unter anderem Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt. Geboren wurde sie 1897 in Herford und verstarb 1970 in Bad Oeynhausen. Dr. Helene Weber von der CDU, Lehrerin und Philologin, wurde 1881 in Elberfeld bei Wuppertal geboren und starb 1962 in Bonn.

Helene Wessel, Wohlfahrtspflegerin (geboren: 1898 in Dortmund; verstorben: 1969 in Bonn), gehörte zunächst der Zentrumspartei und später der SPD an. Die Vierte im Bunde, Juristin Dr. Elisabeth Selbert (geboren: 1896 in Kassel; verstorben: 1986 in Kassel), aus der SPD, brachte den Vorschlag für den Artikel 3 im Grundgesetz im Parlamentarischen Rat ein. Unterstützt wurde sie dabei von Frieda Nadig.

Selbert kam nicht ganz allein auf den Gedanken, die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Grundgesetz zu verankern. Beeinflusst wurde Selbert von Herta Gotthelf. Gotthelf, eine perfekte Networkerin der damaligen Zeit, war vor 1933 Redakteurin der SPD-Frauenzeitschrift „Genossin“.

Sie und einige Partei-Kolleginnen pflanzten Selbert ein, die Gleichberechtigung müsse im Grundgesetz als Formulierung aufgenommen werden. In den schriftlichen Unterlagen der Frauen zu der Thematik stand der Satz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Diese kurze und eindeutige Formulierung wählte Selbert aus und brachte sie in den Parlamentarischen Rat ein.

Zweimal wurde der Passus abgelehnt, auch von zwei Frauen. Nadig und Selbert hatten stets dafür gestimmt. Sie warben, argumentierten und ließen nicht locker. Letztendlich hatten sie Erfolg:  Am 18. Januar 1949 stimmte der Parlamentarische Rat dem Gleichheitsgrundsatz zu.

Am 23. Mai 1949 wurde dann das Grundgesetz verkündet, einen Tag später trat es in Kraft. Nach wie vor regelt das Grundgesetz unser Zusammenleben und stellt die Menschen in den Mittelpunkt und nicht den Staat. Eine unverzichtbare Errungenschaft in unserer Demokratie, die nicht in Vergessenheit geraten darf. (ah)