Kreis Lippe/Detmold/Camotes. Mit nur einem Atemzug 100 Meter in die Tiefe tauchen und wieder hinauf an die Meeresoberfläche. Diese schier unglaubliche Leistung ist Fabian Dittrich vor wenigen Wochen als erstem Deutschen in Camotes auf den Philippinen gelungen. Damit sicherte sich der gebürtige Detmolder gleichzeitig den deutschen Rekord im Apnoetauchen in seiner Disziplin.
Bei dem Rekordversuch in seiner Disziplin tauchte der 43-Jährige nur mithilfe von Flossen in die Tiefe und wieder zurück. Als Orientierung unter Wasser diente ein Seil, das er aber während des Tauchgangs nur vor dem Abtauchen, einmal bei der Wende und danach erst wieder nach dem Auftauchen berühren durfte.
Im LWZ-Interview spricht Dittrich unter anderem darüber, wie er zum Apnoetauchen gekommen ist, wie die Idee entstanden ist, den deutschen Rekord zu brechen und welchen Bezug er noch heute zu seiner lippischen Heimat pflegt.
LIPPISCHE WOCHENZEITUNG (LWZ): Herr Dittrich, Sie sind in Detmold geboren. Wie kann man sich Ihre Kindheit und Jugend dort vorstellen?
Fabian Dittrich: Die ersten 19 Jahre meines Lebens habe ich in Detmold verbracht. Als Jahrgang 1981 bin ich halb in der Natur und halb mit der aufkommenden Technologie aufgewachsen. Damals kamen die Freunde noch an die Haustür und klingelten, um mich zum Spielen abzuholen – ohne Handys, ohne Internet, ohne Ablenkungen. Wir waren oft im Wald, haben Baumhäuser gebaut oder auch mal das der „anderen Gang“ zerstört. Der Knochenbach war einer meiner Lieblingsorte. Einmal ist mein Bruder mit einem Schlauchboot bis nach Lage abgetrieben und wurde von der Polizei nach Hause gebracht. Anfang der 90er-Jahre zog dann der erste Heimcomputer ins Wohnzimmer ein und wir saßen Stundenland davor. Diese Mischung aus Abenteuer und Technologie prägt mich noch bis heute.
LWZ: Wie ist es dann dazu gekommen, dass Sie den Knochenbach irgendwann gegen das weite Meer eingetauscht und sich dem Apnoetauchen gewidmet haben?
Dittrich: 2017 habe ich in Mexiko das Flaschentauchen ausprobiert, fand es jedoch etwas langweilig, mir nur Fische und Korallen anzuschauen. Nach dem dreitägigen Kurs sah ich, zurück an der Tauchschule, ein „Try Freediving“-Schild mit der Nummer von „Pepe“. Ich rief ihn an, und am folgenden Tag lag ich auf dem Rücken an der Oberfläche einer 70 Meter tiefen mexikanischen Cenote (Anm. d. Red.: Unterirdische Höhle mit Grundwasserzugang, die meist als großes Kalksteinloch vorliegt.) und versuchte mich in der sogenannten „Relaxation Phase“, wie Pepe es mir erklärt hatte.
Um den Kurs zu bestehen, galt es, auf zwölf Meter zu tauchen. Auf sieben Metern Tiefe drehte ich um und tauchte panisch wieder hoch. „Ich dachte, ich würde sterben. Das kann doch nicht wahr sein, dass das ein Anfängerkurs ist! Ich hätte fast Wasser eingeatmet!“ – „Hast du aber nicht“, sagte Pepe ruhig. „Schau, jetzt bist du ganz ruhig. Dein Körper reagiert auf hohe CO₂-Werte, ein Reflex. Aber Sauerstoff hast du noch genug.“
LWZ: Sicher ein einschneidendes Erlebnis.
Dittrich: Ich hatte unglaublichen Schiss, es noch einmal zu probieren, wahrscheinlich auch, weil ich als Elfjähriger fast im Bad Salzuflener Wellenbad ertrunken bin. Dieses Trauma trug ich noch in mir. Vielleicht spielte auch meine Geburt eine Rolle, bei der ich die Nabelschnur um den Hals hatte. Aber ich bin niemand, der schnell aufgibt. Ich zwang mich, den Tauchgang noch einmal zu probieren. Pepes Augen hinter seiner Tauchermaske begleiteten mich, und das gab mir ein Gefühl von Sicherheit.
Diesmal schaffte ich es auf zwölf Meter und paddelte ganz schnell wieder hoch. Doch an der Oberfläche merkte ich, dass ich gar nicht außer Atem war. Plötzlich machte sich ein ekstatisches Gefühl bemerkbar: Ich bin dorthin gegangen, wo meine größte Angst lag, und mit diesem Tauchgang habe ich sie überwunden. Ich lief wie auf Wolken zu meinem Hotel, war tagelang wie high und träumte anders, tiefer – als hätte ich neue Ebenen meines Unterbewusstseins betreten.
LWZ: Wie würden Sie einem Laien das Apnoetauchen beschreiben?
Dittrich: Du lernst, dich in einer Stresssituation zu entspannen, atmest tief ein und tauchst zurück in den Bauch deiner Mutter – in einen Bewusstseinszustand, der vielleicht dem ähnelt, den wir als Embryos hatten. Wie war dein erster Atemzug? Und was war davor? Du kamst aus einer flüssigen Umgebung in eine gasförmige und hast plötzlich geatmet. Vielleicht hält das Nicht-Atmen ja ein paar Geheimnisse für uns bereit. Dort unten, in der Tiefe, lernen wir etwas über uns, was wir mit zurück an die Oberfläche nehmen können – und es im Alltag anwenden.
LWZ: Welche Gefühle sind das genau?
Dittrich: In der Tiefe gibt es keinen Platz für Gedanken an die Vergangenheit oder Zukunft. Du bist einfach im Moment. Meine Trainerin sagt immer: „Mach genau das, was du gerade machst – und nichts anderes.“ Diese Haltung hilft nicht nur unter Wasser, sondern auch im Alltag. Sorgen und Probleme entstehen oft in unseren Gedanken, aber selten im Hier und Jetzt.
LWZ: Was macht darüber hinaus den Reiz dieser Sportart aus?
Dittrich: Ab 1998 hatte ich einen Internetanschluss. Damals hörte das spontane Klingeln an der Tür auf, und die Kumpels schickten Nachrichten über ICQ und AOL, um sich zu verabreden. Ab 2012 hatte dann jeder ein Smartphone. Ich war schon immer viel auf Reisen, auch vor 2012. Irgendwo habe ich mal gelesen: „Das Schöne am Reisen ist, dass es dir eine Chance gibt, gelangweilt, verloren und einsam zu sein.“ Damals, wenn du in einer labyrinthartigen marokkanischen Altstadt verloren warst, hast du jemanden nach dem Weg gefragt. Vielleicht hat der dich noch auf einen Tee eingeladen oder von einem Dorf erzählt, das in keinem Reiseführer stand. Du bist hingefahren, und plötzlich war deine ganze Reise anders.
Damals, wenn du gelangweilt warst und auf deine Pizza gewartet hast, hast du den Blick eines anderen Reisenden aufgefangen und ein Gespräch begonnen. Vielleicht seid ihr Freunde geworden und gemeinsam weitergereist. Damals, wenn du einsam warst, hast du in einer Bar den Mut gefunden, eine Frau anzusprechen. Und wenn das erfolgreich war, fühlte es sich unglaublich gut an. Und heute? Verloren? Google Maps. Gelangweilt? Instagram. Einsam? Tinder. Unter Wasser gibt es das alles nicht. Dort ist vielleicht der einzige Ort, an dem wir heutzutage eine schwerelose, absolute Ruhe erleben können.
LWZ: Welche Fähigkeiten muss man fürs Apnoetauchen mitbringen, und kann es jeder erlernen?
Dittrich: Ja, jeder kann es lernen. Alles, was man braucht, ist die Bereitschaft, sich auf etwas Neues einzulassen.
LWZ: Wie entstand bei Ihnen die Idee, den deutschen Rekord zu brechen?
Dittrich: Nach dem eintägigen Kurs in Mexiko habe ich zwei Jahre nicht viel ans Freediving gedacht. Nach einem Jahrzehnt des rastlosen Reisens und viel Rock’n’Roll zog ich nach Montenegro in die Natur ans Meer, um mal etwas ruhiger zu leben und verbrachte viel Zeit im Wasser. Ein Freund aus Leopoldshöhe besuchte mich 2019 und erinnerte mich an den Kurs. Ich zeigte ihm ein paar Tricks, die ich von Pepe gelernt hatte. Wir gingen aufs Meer hinaus, und ich schaffte plötzlich 20 Meter – einfach so.
Wieder ekstatisch wie 2017 buchte ich mir drei Tage später spontan einen Flug nach Dahab, und zwei Wochen später tauchte ich auf 40 Meter. Da wurde mir klar: Je gesünder und bewusster ich lebte, desto schöner und tiefer wurden meine Tauchgänge. Ab da war ich angefixt. Es folgten fünf Jahre intensives Training. Dieses Jahr habe ich dann den Rekord mit 100 Metern gebrochen, das ist einfach so passiert, weil ich am Ball geblieben bin.
LWZ: Wie sah das harte Training für den Rekordversuch im Detail aus?
Dittrich: Ich habe fünf Jahre lang intensiv trainiert, rund um die Welt – in Ägypten, Dominica, Mexiko, Zypern, Griechenland, Türkei, Bali, den Philippinen und Kolumbien. Dabei haben mich drei verschiedene Coaches begleitet, die ihr Wissen mit mir teilten und individuell abgestimmte Trainingspläne für mich entwickelten. Jedes Jahr verbrachte ich etwa 100 Tage im Wasser, sei es für mein eigenes Training oder um anderen das Freediving beizubringen. Ergänzend zu den Tauchgängen im Wasser spielte auch das Training an Land eine wichtige Rolle: Visualisierungstechniken, Atemübungen und gezielte Dehnprogramme waren fester Bestandteil meiner Vorbereitung. Auch Ernährung und generelle Fitness spielen eine Rolle.
LWZ: Gab es während des Trainings oder davor auch brenzlige Situationen unter Wasser?
Dittrich: Ja, 2023 in Zypern habe ich das erste Mal unter Wasser das Bewusstsein verloren. Es war ein sogenannter „Blackout“. Natürlich sind in solchen Momenten Sicherheitstaucher in der Nähe, die dich innerhalb von Sekunden an die Oberfläche bringen und sicherstellen, dass du wieder bei Bewusstsein bist. Es war eine wertvolle Lektion, denn Freediving ist sicher, solange man die Regeln einhält und sich nicht von seinem Ego treiben lässt.
Ich habe gelernt: Wenn du zu sehr willst – beispielsweise mit dem Gedanken tauchst, „Wenn ich das schaffe, stehe ich in der Zeitung und habe einen Rekord“ – wird es schwierig. Dieser übertriebene Druck und das Streben nach Anerkennung können gefährlich sein. Ein weiser Freediving-Spruch lautet: „Es ist nicht die Tiefe, die wir erobern, sondern uns selbst.“ Wenn man das Ego außen vor lässt, wird das Tauchen zu einer Reise nach innen – und erst dann kannst du dein wahres Potenzial ausschöpfen. Für mich war dieser Blackout ein Moment, der mir gezeigt hat, wie wichtig Demut und Selbstreflexion in diesem Sport sind.
LWZ: Und diese Lektion gepaart mit intensiver Vorbereitung hat sich ausgezahlt. Sie sind der neue Inhaber des deutschen Rekords. Was kommt jetzt – der Weltrekord?
Dittrich: Der Weltrekord in meiner Disziplin liegt bei 122 Metern. Für den Moment gönne ich mir eine Pause – wer weiß, ob ich überhaupt jemals wieder aktiv ins Freediving zurückkehre. Vielleicht wende ich mich ganz neuen Dingen zu. Sollte ich weitermachen, reizt mich jedoch der Gedanke, andere Disziplinen wie die Monoflosse oder Free Immersion (Anm. d. Red.: Freitauchdisziplin ohne Antriebsausrüstung, nur durch Ziehen am Seil beim Ab- und Aufstieg.) auszuprobieren und auch dort die 100-Meter-Marke zu erreichen.
LWZ: Sie haben 2021 eine Tauchschule in Montenegro eröffnet. Wie sieht Ihr Alltag dort aus?
Dittrich: Meine Schule, SeaSpace.me, liegt direkt an der Adria, inmitten einer traumhaften Kulisse. Von Mai bis Oktober verbringe ich dort meine Zeit und unterrichte Freediving. Der Alltag ist eine Mischung aus Atemübungen, Entspannungstraining und Tauchgängen im kristallklaren Meer. Zwischendurch unternehmen wir Ausflüge zu verlassenen Festungen oder erkunden geheimnisvolle Höhlen mit dem Kajak. Abends genießen wir den Sonnenuntergang vom Dach aus, blicken auf die kleine, angrenzende Bucht, essen gemeinsam, singen und spielen Gitarre.
LWZ: Das klingt nicht danach, als ob Sie das Leben in Ostwestfalen-Lippe groß vermissen würden. Sind Sie denn noch ab und zu in der Heimat, und wie sieht Ihre Beziehung zu Lippe heute aus?
Dittrich: Ich komme regelmäßig zurück, mindestens alle zwei Jahre. Gerade bin ich auf dem Weg von den Philippinen nach Albanien, wo ich mein Auto am Flughafen geparkt habe – in der Annahme, dass ich den Rekord schneller brechen würde. Aus einem Monat sind mittlerweile zwei geworden, und jeden Tag kostet mich das 2 Euro. (lacht) Sobald ich das Auto in Montenegro bei SeaSpace abgestellt habe, mache ich mich direkt auf den Weg nach Detmold zu meinen Eltern. Ich freue mich schon darauf, ihre Reaktion zu sehen, wenn sie diesen Artikel lesen! (schmunzelt)
Das Gespräch führte Yves Brummel.
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Bereits zu Schulzeiten entdeckte Yves Brummel seine Leidenschaft für Journalismus, die er während seiner knapp neunjährigen Tätigkeit als Freier Mitarbeiter in der Lokalsportredaktion des Westfalen-Blatts in Gütersloh vertiefen durfte. Nach Stationen unter anderem in den Medienabteilungen von Arminia Bielefeld und Dr. Kurt Wolff sowie in der Sportkommunikation der Arvato-Medienfabrik landete er nach Abschluss seines Masterstudiums im Bereich Journalismus und Medienkommunikation als Freier Redakteur bei Lippe aktuell. Zudem war der gebürtige Gütersloher zu dieser Zeit für den Postillon in Lage tätig. Seit 2023 ist er Freier Redakteur bei der LWZ und schreibt für das Westfalen-Blatt in Schloß Holte-Stukenbrock.