Dr. Frank Stehr leitet die NCL-Stiftung. Er setzt sich dafür ein, diese bislang unheilbare, tödlich verlaufende Kinderkrankheit zu bekämpfen. Foto: Hajo Gärtner

Kreis Lippe/Detmold. Die Rotarier vom Rotary Club Detmold engagieren sich gegen die tödliche Kinderkrankheit Neuronale Ceroid Lipofuszinose (NCL). Zu dem Zweck haben sie Dr. Frank Stehr, den Leiter der NCL-Stiftung zu einer Info-Veranstaltung im Lippischen Hof eingeladen. Die LWZ berichtete. Außerdem nutzte die LWZ die Gelegenheit, für ein Interview mit Dr. Stehr.


Lippische Wochenzeitung (LWZ): Herr Dr. Stehr, was genau ist NCL und welche Symptome treten bei den betroffenen Kindern auf?
Dr. Frank Stehr: Die Kinderdemenz NCL (Neuronale Ceroid Lipofuszinose) ist eine seltene und bisher immer tödlich verlaufende Stoffwechselkrankheit, die zur Folge hat, dass Stoffwechselprodukte in den Zellen nicht mehr richtig abgebaut werden. Durch einen genetischen Defekt sterben nach und nach die Seh- und Nervenzellen der betroffenen Kinder ab. Dies führt zu zahlreichen Symptomen wie Erblindung, epileptischen Anfällen, Demenz, dem Verlust der Sprache und den motorischen Fähigkeiten, bis sie noch vor ihrem 30. Lebensjahr versterben.

LWZ: Wie verläuft die Krankheit?
Dr. Stehr: Es beginnt im Grundschulalter mit Sehschwierigkeiten – zu diesem Zeitpunkt ist den betroffenen Familien noch gar nicht klar, was ihrem Kind fehlt; innerhalb von circa zwei Jahren erblinden die Kinder vollständig. Parallel beginnt für viele Familien eine kräftezehrende Ärzteodyssee, denn es vergehen meist mehrere Jahre und zahlreiche Arztbesuche, bevor die Diagnose gestellt wird.
Dabei ist es äußerst wichtig, die Krankheit früh festzustellen, damit die betroffenen Familien rechtzeitig alle erforderlichen Maßnahmen in die Wege leiten können. Im Schnitt dauert es nach den ersten Symptomen zwei bis vier Jahre, bis die Eltern endlich Gewissheit haben, an welcher Krankheit ihr Kind wirklich leidet. Die oben genannten Symptome treten dann nach und nach auf.

LWZ: Wodurch wird die Krankheit verursacht?
Dr. Stehr: Die Kinderdemenz wird autosomal-rezessiv vererbt. NCL unterteilt sich in 13 verschiedene Formen, bei denen der Fehler jeweils in einem anderen Gen liegt. Die NCL-Stiftung hat sich auf die juvenile Neuronale Ceroid Lipofuszinose CLN3 fokussiert, die durch eine Genmutation auf Chromosom 16 verursacht wird. Der Fehler im Erbmaterial führt dazu, dass sich in den Nervenzellen ungewöhnliche, fettähnliche Substanzen ansammeln: Das für den natürlichen Stoffwechsel erforderliche Protein, das sogenannte CLN3-Protein, ist bei der juvenile Neuronale Ceroid Lipofuszinose defekt.
In der Folge ist die Funktion des Lysosoms, des „Recyclinghofs“ der Zelle, gestört, wodurch sie nicht mehr von den Schadstoffen der alltäglichen Energieproduktion gereinigt werden kann. Die Schadstoffe sammeln sich an und die Zelle stirbt ab. Zunächst sind die Augen betroffen – die Kinder erblinden – und kurze Zeit später das gesamte Gehirn.

LWZ: Was kann den Betroffenen helfen?
Dr. Stehr: Weltweit sind rund 70.000 Menschen von NCL betroffen, in Deutschland etwa 700, womit NCL zu den seltenen Erkrankungen gehört. Die Seltenheit stellt jedoch ökonomisch betrachtet eine Herausforderung dar, da die Entwicklung von Medikamenten für seltene Erkrankungen oft nicht rentabel genug ist, um die nötige Unterstützung von der Pharmaindustrie zu erhalten.
Es ist nicht möglich, die fehlerhaften Erbanlagen zu korrigieren oder die Folgen vollständig auszugleichen, insofern kann der dramatische Verlauf der Kinderdemenz NCL bisher weder verzögert noch gestoppt werden. Aktuell geht es bei der Behandlung und Therapie von der CLN3-Kinderdemenz lediglich darum, die Symptome zu bekämpfen und die Beschwerden zu lindern. Logopädie und Physiotherapie können helfen, das Voranschreiten der Symptome zu verlangsamen.

LWZ: Welchen Zweck verfolgt die Stiftung?
Dr. Stehr: „Für eine Zukunft ohne Kinderdemenz“ ist die Mission der gemeinnützigen NCL-Stiftung. Sie setzt sich seit der Stiftungsgründung im Jahr 2002 für die nationale und internationale Forschungsförderung ein, um von NCL betroffenen Kindern eine Aussicht auf bisher fehlende Therapie- und Heilungsansätze zu geben. Gegründet wurde die NCL-Stiftung von Dr. Frank Husemann, bei dessen Sohn Tim 2001 im Alter von sechs Jahren NCL diagnostiziert wurde.
Als Vater eines an NCL erkrankten Sohnes konnte und wollte er nicht tatenlos zusehen, wie ihm durch diese Krankheit Tag für Tag ein wenig mehr von seinem Kind genommen wird. Er wollte sich engagieren – nicht nur für sein Kind, sondern auch für die anderen betroffenen Kinder mit ihren Familien.
Tim verstarb im Jahr 2022 im Alter von 27 Jahren an den Folgen seiner Erkrankung. Obwohl Tim nicht mehr geholfen werden konnte, ist die Zuversicht der NCL-Stiftung groß, dass in naher Zukunft aufgrund vielversprechender Ergebnisse aus der Forschung zunehmend neue Therapiemöglichkeiten klinisch getestet werden können. Hiermit wäre ein nächster Schritt zu einer „Zukunft ohne Kinderdemenz“ getan.


Das Gespräch führte Hajo Gärtner.