Lage. Der preisgekrönte Salzufler Autor Marco Göllner liest im Technikum aus seinem Buch „Oma Martha und ich“ vor. Mehr als 120 Zuhörer hören ihm gespannt und amüsiert zu. Ein Buch über die Oma? Wen interessiert denn sowas?
Normalerweise kaum vorstellbar, dass Großmutters Alltag auf ein breites Interesse stößt. Wenn ein brillanter Autor aber Blitzlichter auf den Alltag der 60er-Folgejahre abfeuert, und das auch noch aus der Frosch-Perspektive, dann wird’s spannend.
Die bunte Welt der Großmutter
Zwar nennt der Erzähler keine genauen Daten. Einen Anhaltspunkt aber liefert der Umstand, dass Oma Martha immer gleich riecht, und zwar nach „4711“.
Sie benutzt „Klosterfrau Melissengeist“ als Allzweckwaffe gegen Krankheitskeime, lässt ihre Zähne nachts im Becher schlafen und pudert alles, was nach Ausschlag aussieht: Kinderhintern genauso wie rote Gesichter.
Ein vortreffliches Porträt der „Generation Kittelschürze“: Die Großmutter sorgt sich um alles und jeden aus ihrer weitgefächerten Salzufler Hausgemeinschaft und hat den familiären Alltag fest im Griff. Unentwegt pudert sie Kinderhintern und „jahrelang das Gesicht meines Bruders“, bis sie endlich feststellt: „Das soll woh’ so sein.“
Ja, das ist ein autobiografischer Roman durch und durch. Angereichert mit literarischen Kniffen und zugespitzt mit glaubwürdigen Pointen.
Marco Göllner erzählt in feinen Tönen, mit liebevoller Ironie und zugleich aberwitzig witzig vom matriarchalisch dominierten Leben; niemals wirken satirische Passagen verletzend. Die Landfrauen im Publikum haben ihre helle Freude daran. Tatsächlich hat der Lippische Landfrauenverband die Lesung zusammen mit dem Förderverein der Stadtbücherei organisiert.
Fördervereinschef Michael Biermann erklärt den Grundgedanken der Veranstaltung. An Maren Bicker vom Vorstandsteam des Kreis-Landfrauenverbandes gewandt, erläutert er das Prinzip der ungewöhnlichen Kooperation: „Ihr bringt das Publikum und wir liefern das Know-how.“
Dass die Veranstaltungen des Fördervereins in der Regel viel Publikum ziehen, hat Biermann lange genug erlebt. Doch jedes Mal ist ihm aufs Neue wichtig: „Applaus ist die Belohnung des Künstlers, ein volles Haus die Anerkennung für den Veranstalter“, erläutert er seinen Zuhörern.
Marco Göllner startet seinen Auftritt überraschend: mit hoher, zirpender Kinderstimme. Klar, er erzählt vom Familienleben aus der Perspektive seiner Kindheit. „Bleibt das jetzt so?“, argwöhnt das Publikum insgeheim. „Natürlich nicht“, antwortet Göllner auf die Stimmung, die er präzise erfasst und fährt mit einer abgrundtiefen Bassstimme fort. Sein Markenzeichen ist die Varianz in der Tonhöhe und Dynamik.
Außerdem unterstreicht er emotionale Höhepunkte mit einem kräftigen Schlag auf den Tisch, der so manche im Publikum zusammenzucken lässt. Einschlafen ist hier nicht. Gleich am Anfang bringt er seinen Zuhörern bei: „Wenn ich einen Schluck Wasser trinke, klatscht ihr.“ Brav hält sich das Publikum bis zum Schluss an diese „Anweisung“. Und Göllner hat reichlich Durst. Am Ende jedenfalls gibt’s noch mal ganz viel Handgeklapper.
Es geht beileibe nicht nur um Oma Martha. Geschwister, Tanten und Onkel geraten gleichermaßen ins Visier der humoristischen Erzählung. Warum ist die Familie so groß? „Sie haben früh rumgemacht, das war in unserer Familie so üblich.“ Obwohl man gleichzeitig ziemlich verklemmt war.
So will niemand dem kleinen Marco jene Geste wahrhaftig erläutern, die er eher zufällig aufgeschnappt hat: Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zu einem Kreis formen und mit dem Zeigefinger der linken Hand durch den Kreis fahren, und zwar wiederholt. Alle drucksen herum und können Marcos Neugier nicht befriedigen. Schließlich erklärt ihm jemand, die Geste sei die intergalaktische Begrüßung, mit der man sich im Weltall verständige, und die wendet der Erzähler dann auch gegenüber dem Pastor an, der wenig Verständnis für die kosmische Dimension des Fingerspiels aufbringen kann.
Unterdessen kommt Oma Martha offensichtlich ganz ohne männlichen Beistand aus, denn „sie hat zwei Ehemänner verschlissen“. Niemand in dieser großen Familie scheint väterliche Autorität zu vermissen. Ein deutliches Wort von der Großmutter reicht. Hat es in der Nachkriegsgeschichte wirklich ein matriarchalisches Zeitalter gegeben, das nur nicht in die Geschichtsbücher eingegangen ist?
Marco Göllner liefert uns eine anschauliche Sichtung dessen, was vielleicht – irgendwo auf dem Lande – jenseits der städtisch fokussierten Schlaglichter geschehen ist. Für die Prä-Boomer im Publikum sicherlich auch eine Gelegenheit, in eigenen Kindheitserinnerungen an die eigene gütige Oma in der „guten alten Zeit“ zu schwelgen.