Cannabis-Legalisierung: Gesundheitsamt Lippe kritisiert Freigabe

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Seit dem 1. April ist der Konsum von Cannabis in Deutschland legal. Foto: Adobe Stock

Kreis Lippe. „Jeden Morgen ein Joint und der Tag ist dein Freund“, so lautete ein gängiger Slogan der 68er-Generation. Aber ist es wirklich so? Während die Niederlande in den vergangenen Jahrzehnten mit dem Konsum von Cannabis verhältnismäßig locker umgingen, war der Gebrauch der Droge in Deutschland verboten. Bis jetzt.

Seit Montag, 1. April, ist der Konsum und Besitz von Cannabis in Deutschland unter Auflagen freigegeben. Die Legalisierung ist eine Forderung der Grünen aus dem Koalitionsvertrag, die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) in den Bundestag gebracht wurde.

Obwohl sich unter anderem der Richterbund, die Ärzteschaft und die Polizeigewerkschaft dagegen aussprachen, ist das Gesetz nun in Kraft getreten. Im Gespräch mit der LIPPISCHEN WOCHENZEITUNG beantwortet Dr. Kerstin Ahaus, Leiterin des Gesundheitsamtes des Kreises Lippe, die wichtigsten Fragen zu den Folgen der Freigabe des Rauschmittels.

Die Chefin des Gesundheitsamtes des Kreises Lippe, Dr. Kerstin Ahaus, beantwortet Fragen zur bevorstehenden Freigabe von Cannabis. Foto: Reiner Toppmöller

LIPPISCHE WOCHENZEITUNG (LWZ): Wie sehen Sie die Freigabe von Cannabis aus ärztlicher Sicht?
Dr. Kerstin Ahaus: Wie ein Mensch auf die Inhaltsstoffe von Cannabis reagiert, ist individuell sehr unterschiedlich und wenig berechenbar. Faktoren sind unter anderem die individuelle Empfindlichkeit, Stimmungslage, Konsumart, der Gesundheitszustand, Mischkonsum und Vorerfahrungen. Für die Intensität und Dauer der Effekte ist insbesondere auch die aufgenommene Menge der Inhaltsstoffe maßgeblich.

LWZ: Welche Gefahren birgt der Konsum?
Ahaus: Akut (innerhalb von Stunden bis Tagen) können nach Cannabis-Konsum Nebenwirkungen wie Angst- und Panikgefühle, Orientierungslosigkeit, verminderte Reaktionsfähigkeit, Erinnerungslücken, depressive Verstimmung, Herzrasen, Übelkeit oder Schwindel sowie Halluzinationen auftreten. Bei länger andauerndem Konsum können psychische Störungen wie Depressionen und Psychosen auftreten, insbesondere bei Menschen mit Vorerkrankungen oder mit einer besonderen Empfindlichkeit für diese Erkrankungen. Zudem besteht das Risiko der Entwicklung einer Abhängigkeit.

LWZ: Welche Nebenwirkungen können insbesondere bei jungen Menschen auftreten?
Ahaus: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind aufgrund des Reifeprozesses des Gehirns bis zu einem Lebensalter von 25 Jahren besonders anfällig für psychische, physische und soziale Auswirkungen eines langfristigen, aber auch eines kurzfristigen Cannabiskonsums. Vor allem der Inhaltsstoff THC kann die Gehirnentwicklung stören.
Es gibt einen Zusammenhang zwischen Cannabis-Konsum bei Jugendlichen und ihren schulischen Leistungen sowie dem Ausbildungsniveau: Sie haben eine höhere Schulabbruchrate, eine geringere Beteiligung an universitärer Ausbildung und weniger akademische Abschlüsse. Die Effekte sind stärker bei frühem Beginn und hohem Konsum – diese Einschätzung stammt vom Bundesministerium für Gesundheit zum Thema Cannabislegalisierung. Deshalb halte ich aus ärztlicher Sicht die Cannabis-Freigabe für Personen unter 25 Jahren für ausgesprochen kritisch.

LWZ: Deshalb hat die Bundesregierung den Konsum bei jungen Menschen noch weiter eingeschränkt.
Ahaus: Die Beschränkung der Cannabismenge auf 30 Gramm pro Monat, das entspricht circa 90 Joints pro Monat, wurde nicht wie ursprünglich angekündigt für die Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen begrenzt, sondern nur für die Altersgruppe der 18- bis 21-Jährigen. Und das, obwohl bekannt ist, dass aufgrund der Hirnreifung bis zum 25. Lebensjahr diese besonders anfällig bei Cannabiskonsum ist.

LWZ: Welche Gefahren sehen demnach auf die Ärzte zukommen?
Ahaus: Im Hinblick auf das bereits jetzt schon überlastete medizinische System befürchte ich, dass eine erhöhte Inanspruchnahme durch Abhängigkeitserkrankungen und die Zunahme anderer unterschiedlicher psychischer Erkrankungen erfolgen wird. Notwendige Hilfen kommen deshalb dann gegebenenfalls nicht bei allen Personen an, die sie benötigen.

LWZ: Gibt es noch weitere Gesellschaftsbereiche, in denen Sie Risiken sehen?
Ahaus: Bereits jetzt besteht eine deutliche Zunahme bei der Anzahl der Schulverweigerer, auch hier ist davon auszugehen, dass die Anzahl der Schulverweigerer oder Schulabbrecher zunehmen wird. Eine zunehmende Belastung des Systems Schule ist ebenfalls zu befürchten. Zudem ist seit Corona bereits eine Zunahme der psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen und auch jungen Erwachsenen sichtbar.
Zudem erwarte ich, dass Jugendliche „einfacher“ an Cannabis gelangen als bisher, auch wenn dies weiterhin strafrechtlich relevant ist. Außerdem dürfte die Hemmschwelle sinken, Cannabis zu konsumieren, da es ab 18 Jahren sowieso kein Problem mehr sein wird, daran zu gelangen. Durch die Freigabe werden die Risiken bagatellisiert beziehungsweise ausgeblendet. Gegebenenfalls kann auch mit einer Zunahme der Straftaten unter Drogeneinfluss gerechnet werden. Auswirkungen im Straßenverkehr unter Cannabiseinfluss und im Beruf bleiben abzuwarten. Möglicherweise droht eine erhöhte Unfallgefahr, die das medizinische System dann ebenfalls belasten könnte. Aus Sicht des Kreisgesundheitsamtes wird die Legalisierung daher ausgesprochen kritisch gesehen. Etwa liegen die Grenzwerte für den Straßenverkehr innerhalb der Länder Europas bei sehr unterschiedlichen Werten.

LWZ: Sind Maßnahmen oder Aufklärungskampagnen durch das Gesundheitsamt geplant und falls ja, wie sehen diese aus?
Ahaus: Im Jahr 2023 wurde bereits ein Fachtag im Kreis Lippe zum Thema Cannabislegalisierung in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt, dem Kinder- und Jugendschutz des Kreises Lippe und dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe durchgeführt, um Therapeuten, Ärzte, Sozialarbeiter sowie Mitarbeiter im Kinder- und Jugendbereich für das Thema zu sensibilisieren.
Eine weitere Aufklärungskampagne ist aus Sicht des Gesundheitsamtes für den gesamten Kreis Lippe unter Einbezug der Schulen zwingend erforderlich. Zudem wurde eine bundesweite Plattform errichtet (www.infos-cannabis.de). Auf dieser Seite werden Informationen zum Gesetz, den Angeboten zur Suchtprävention, Suchtberatung, Suchtbehandlung und Wirkungen und Risiken gebündelt.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA) erhält zudem finanzielle Mittel zu einer groß angelegten Aufklärungskampagne. Diese ist allerdings noch nicht angelaufen. Das bedeutet, dass „Konsum-Wege“ bereits beschritten werden, lange bevor Aufklärung wirklich greifen kann. Wünschenswert wäre es gewesen, Prävention vor Umsetzung des Gesetzes breit angelegt durchzuführen.


Das Interview führte Reiner Toppmöller.