Detmold/Berlin. Der britisch-irische Politiker Chris Ward kehrte Großbritannien nach dem Brexit den Rücken zu und zog nach Berlin. Sieben Jahre seiner Kindheit verbrachte er jedoch in Detmold. Heute engagiert sich Ward politisch und kämpft unter anderem für Menschenrechte. Als Spitzenkandidat der Liberalen Demokraten kandidiert er nun für das Europaparlament.
Aktuell sammelt der Wahlberliner bis Mitte März 4.000 Unterschriften von EU-Bürgern, damit er auf den Wahlzettel für die Europawahl kommt. Im Gespräch mit der LWZ erzählt der 40-Jährige unter anderem von seinen Zielen in der Politik sowie den Erinnerungen an seine lippische Heimat.
LIPPISCHE WOCHENZEITUNG (LWZ): Herr Ward, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen. Erzählen Sie doch zunächst etwas über sich.
Chris Ward: Ich wurde in Iserlohn geboren. Mein Vater war in Deutschland bei den britischen Streitkräften stationiert und ich verbrachte den größten Teil meiner frühen Kindheit in Hakedahl in Detmold. Als er 1991 seinen Dienst beendete, zogen wir nach Großbritannien. Derzeit lebe ich mit meinem Mann Josh und meiner Katze Sulu in Schöneberg in Berlin. Beruflich bin ich seit vielen Jahren in der Softwareentwicklung tätig. In meiner Freizeit, wenn ich mich nicht mit Politik beschäftige, lese ich gerne, gehe spazieren oder laufen und sehe mir Filme mit Freunden an. Ich würde mich als einfühlsam und zielstrebig beschreiben – manche würden es vielleicht Sturheit nennen. Es macht mir Spaß, Dinge zu reparieren oder zu verbessern, sei es die Leistung einer App oder das Leben von Menschen durch meinen Aktivismus.
LWZ: Wie sind Sie zur Politik gekommen?
Ward: Durch einen Zufall. In meinem zweiten Jahr an der Universität war ich Redakteur der Studentenzeitung und interessierte mich für eine schlecht beleuchtete U-Bahn in der Gegend, die seit langem ein Brennpunkt der Kriminalität war. Ich war beeindruckt von der Art und Weise, wie meine damalige Parlamentsabgeordnete aktiv mit den Menschen in der Gemeinde sprach, anstatt darauf zu warten, dass sie zu ihr kamen. Ich schloss mich ihrer Partei an und als die Bezirksratswahlen anstanden, beschloss ich, dass es an der Zeit war, den erwähnten Kriminalitätsschwerpunkt zu beseitigen – ich wurde als Kandidat aufgestellt und gewann die anschließende Wahl. Diese Plattform nutzte ich, um eine äußerst erfolgreiche Kampagne zur Einführung von Sicherheitsmaßnahmen in der U-Bahn zu starten. Ein Jahr später war die Kriminalität in der Gegend um mehr als 90 Prozent zurückgegangen und die Studentenvereinigung meiner Universität verlieh mir für die Ehrenmitgliedschaft auf Lebenszeit. Daraufhin habe ich beschlossen, dass ich in der Politik tätig sein könnte, auch wenn ich dem ganzen Beruf gegenüber ziemlich zynisch war.
LWZ: Was fasziniert und interessiert Sie an der Politik?
Ward: Für viele sind die Zeremonien und die Geschichte faszinierend – da ich im historischen Parlamentsgebäude des Vereinigten Königreichs gearbeitet habe, kann ich das durchaus verstehen. Aber diese Welt ist so weit von meiner Kindheit entfernt, in der ich in einer heruntergekommenen Sozialwohnungssiedlung lebte und eine Schule besuchte, die von den Schulbehörden geschlossen wurde. In den Parlamenten auf der ganzen Welt sitzen in der Regel privilegierte Menschen, die nie mit Armut konfrontiert waren, und doch sind sie diejenigen, die sie beseitigen sollen. Ich sehe die Politik als ein Mittel, um Veränderungen zu erreichen. Egal ob sie es schaffen, die ganze Welt zu retten oder nur eine kleine Veränderung bewirken – alles summiert sich. Als ich meine Auszeichnung für meine Sicherheitskampagne entgegennahm, war das natürlich schön. Aber was mir die Welt bedeutete, war, dass ich danach in der Studentenbar saß und eine Frau, die in der U-Bahn überfallen worden war, sich bei mir bedankte und mir sagte, dass sie sich jetzt sicher fühlen könne. Deshalb mache ich Politik.
LWZ: Was sind Ihre Ziele in der Politik? Was möchten Sie verändern?
Ward: Die Politik ist nie fertig, also werde ich wohl immer in ihr tätig sein, solange es Menschen gibt, die Hilfe brauchen sowie Probleme, die gelöst werden müssen. Aber eines meiner Herzensthemen ist es, dafür zu sorgen, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, sein Bestes im Leben zu erreichen und somit für mehr Chancengleichheit zu sorgen. Außerdem möchte ich sicherstellen, dass diejenigen, die Macht und Einfluss haben, Mechanismen unterworfen sind, die Transparenz und Rechenschaftspflicht gegenüber dem Volk gewährleisten.
LWZ: Sie setzen sich stark für die Gleichberechtigung von Homosexuellen ein. Können Sie Ihre Ziele, Projekte und bisherigen Erfolge diesbezüglich etwas genauer erläutern?
Ward: Genauso wie ich der Meinung bin, dass Chancen für alle verfügbar sein sollten, sollte dies auch für Gleichberechtigung und Menschenrechte gelten. Offensichtlich habe ich auch ein persönliches Interesse an diesem Thema. Der größte Erfolg, den ich bei der Kampagne für die Rechte von LGBTQ+ hatte, war die Verabschiedung des Gesetzes über die gleichgeschlechtliche Ehe im britischen Parlament vor einem Jahrzehnt. Nachdem das Gesetz die zweite Lesung im Unterhaus mit überwältigender Mehrheit bestanden hatte, wurde es dem House of Lords – dem Oberhaus der britischen Legislative – vorgelegt. Die Lords sind traditionell sehr konservativ und haben sich in der Vergangenheit gegen die Gesetzgebung zur Gleichberechtigung ausgesprochen. Die offizielle „Out4Marriage-Kampagne“ setzte sich mit mir in Verbindung und fragte, ob ich ein Tool zusammenstellen würde, das den Menschen helfen könnte, Lobbyarbeit bei den Mitgliedern des Oberhauses zu betreiben. Mein Partner und ich hatten zwei Wochen Zeit, um eine Website zu basteln, mit der man ganz einfach einen Lord auswählen und ihm eine E-Mail schicken konnte. Wir wollten unseren Beitrag für die Sache leisten, wenn auch nur 100 Leute sie nutzen würden. Dieses Ziel haben wir bereits in der ersten Stunde erreicht. Als der berühmte britische Schauspieler Stephen Fry die Nachricht twitterte, geriet unser billiges Webhosting unter Druck. Nach zwei Wochen waren rund 15.000 E-Mails an Lords verschickt worden. Am Tag der Abstimmung nahm uns ein Freund mit in die Bar des Lords. Ich erinnere mich an die Zahlen, die auf dem Bildschirm angezeigt wurden. Ich dachte, dass sie falsch waren – es war ein überwältigender Sieg für uns. Danach ging es zurück ins Unterhaus und bestand seine letzte Prüfung. Nicht lange danach wurde es Gesetz. Ein paar Monate später machte ich meinem Partner einen Heiratsantrag und er sagte „ja“. Ironischerweise haben wir im Rathaus Schöneberg in Deutschland geheiratet und damit nicht einmal das Gesetz genutzt, das wir geändert hatten. Einen Monat bevor ich nach Deutschland zog, war ich sehr stolz, im Namen der britischen humanistischen Nichtregierungsorganisation vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf zu sprechen und auf die damals schrecklichen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien hinzuweisen. Ich bin froh, dass ich was für die Menschen tun konnte, die wie ich sind, aber nicht die gleichen Freiheiten genießen wie ich.
LWZ: Welche Themen respektive Probleme liegen Ihnen darüber hinaus besonders am Herzen?
Ward: Die psychische Gesundheit ist etwas, das mich in meinem Leben sehr stark beeinflusst hat. Vor ein paar Jahren, im Alter von 36 Jahren, erhielt ich die Diagnose ADHS. Die Behandlung hat mein Leben verändert, und es ist frustrierend, wie viel Zeit ich ohne diese Behandlung verbracht habe. Verschiedene andere psychische Leiden sind aus dem ADHS entstanden oder wurden durch das ADHS noch verschlimmert: klinische Depression, Angstzustände, eine Essstörung und Alkoholismus. Der Grund, warum das für mich von Bedeutung ist, ist, dass ich einer der Glücklichen bin. Ich habe meine „Lösung“ bekommen und obwohl ich nie ganz so gut „funktionieren“ werde wie ein neurotypischer Mensch, bin ich jetzt in der Lage, mein tägliches Leben gut zu meistern und bin seit fast sechs Jahren nüchtern. Viele Betroffene haben nicht so viel Glück. Obwohl sich das Stigma der psychischen Gesundheit langsam auflöst, ist es extrem schwierig, überhaupt eine Diagnose zu erhalten. Vielerorts werden psychische Krankheiten erst dann behandelt, wenn sie für andere zu einem Problem werden, nicht, wenn sie für sie selbst zu einem Problem werden. Ich möchte, dass andere das gleiche Glück haben, wie ich es hatte, als ich meine „Lösung“ bekam.
LWZ: Wenn Sie ein Gesetz sofort ändern oder einführen könnten – welches wäre es?
Ward: Europa steht angesichts der Bedrohungen, die wir sowohl intern als auch extern sehen, am Abgrund und die Art und Weise, wie die EU derzeit aufgebaut ist, versetzt sie nicht in die Lage, damit effektiv umzugehen. Die EU ist im Moment ein misstrauisches Arrangement zwischen den Ländern auf Armeslänge. Somit würde ich gerne eine Europäischen Republik – einen mehrheitlichen Zusammenschluss von Staaten – erschaffen. Das wäre vermutlich das ehrgeizigste und am schwierigsten zu verwirklichende Gesetz. Aber es würde eine äußerst positive Wirkung auf unseren Kontinent haben.
LWZ: Warum haben Sie sich nach dem Brexit entschieden, nach Deutschland zurückzukehren?
Ward: Mein Partner und ich haben alles getan, um sicherzustellen, dass das Vereinigte Königreich in der EU bleibt. Am Tag der Abstimmung haben wir unsere winzige Wohnung im Zentrum von London in ein Wahlkampfzentrum verwandelt und von 7 bis 22 Uhr gearbeitet. Es war ein niederschmetterndes Ergebnis nach einer bösartigen Kampagne, aber es war lange abzusehen – Großbritannien hat seinen Platz als gleichberechtigter Partner in der Welt nie akzeptiert und glaubt auch heute noch an seine eigene nationale Überlegenheit. Für meinen Partner und mich war immer klar, dass wir irgendwann ins Ausland ziehen würden. Schließlich gibt es eine Menge von der Welt zu entdecken. Der Brexit hat das nur noch beschleunigt. Für Berlin entschieden haben wir uns zum Teil wegen meiner Liebe zu dieser historischen Stadt, aber für mich war auch ein Gefühl von Identität im Spiel. Ich habe mich in Großbritannien nie wirklich zu Hause gefühlt. Der Umzug zurück nach Deutschland fühlte sich für mich an wie nach Hause kommen. Deutschland hat mir die schönsten Kindheitserinnerungen beschert, jetzt möchte ich etwas zurückgeben.
LWZ: Welche Bedeutung hat Detmold für Sie?
Ward: Ich war vor kurzem zu meinem 40. Geburtstag mit meiner Mutter dort. Es war das erste Mal, dass sie zurückkam, seit wir 1991 weggezogen sind – es war für uns beide eine tolle Nostalgiereise. Ein Spaziergang durch Herberhausen ist für mich etwas ganz Besonderes – einfache Dinge wie die Gegend vor meiner Wohnung, in der ich zum ersten Mal Fahrradfahren lernte oder meine Grundschule, die nur einen kurzen Spaziergang entfernt ist. Außerdem hat mir immer die Art und Weise, wie in Deutschland Weihnachten gefeiert wird, gefallen – die schönen Holzhütten, die Pralinen, die Lichter, die Gerüche, die Musik. In Deutschland hat die Weihnachtszeit schon immer ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Gebens ausgestrahlt, auch die Adventsfeiern und der Markt in Detmold werden zu dieser Nostalgie beigetragen haben. Und schließlich ist da natürlich noch die Lippe-Rose, die ich als Kind sogar auswendig malen konnte. Letztens habe ich die Gelegenheit genutzt und einen Aufkleber gekauft, der jetzt stolz auf meinem Laptop prangt.
LWZ: Was sind Ihre Wünsche und Ziele für die Zukunft?
Ward: Viele Menschen in der Politik sehen den Weg nach oben als eine natürliche Entwicklung an. Für mich ist das eher unwahrscheinlich. Meine Erfüllung in der Politik besteht darin, in einer Gemeinschaft zu sein, Menschen bei Problemen zu helfen und die große Befriedigung zu spüren, die man bekommt, wenn man merkt, dass man das Leben von jemandem verbessert hat. Den Prunk und das Zeremoniell hoher öffentlicher Ämter habe ich immer als ziemlich langweilig empfunden – wenn es in der Politik nicht darum geht, die Dinge für die Menschen besser zu machen, was ist dann der Sinn? Ich bin ein Aktivist der Gemeinschaft und je näher ich den Menschen bin, die am meisten Hilfe brauchen, desto besser kann ich ihnen helfen. Außerdem gibt es in meinem Beruf in der Technologiebranche enorme Herausforderungen, aber auch enorme Chancen. Künstliche Intelligenz kann heute Dinge erreichen, die wir noch vor 20 Jahren für unmöglich hielten, aber wir haben auch gesehen, welch verheerende Auswirkungen dies nicht nur auf die Demokratie, sondern auch auf Menschen haben kann, die ohne Arbeit dastehen. Ich vermute, dass ich, egal was bei den Europawahlen passiert, mein technisches Fachwissen im politischen Bereich einsetzen werde, um diese Lücke zu schließen. Ich weiß nicht genau, wo ich in den kommenden Jahren beruflich stehen werde, aber solange ich coole Sachen mache und etwas Gutes in der Welt tue, werde ich vermutlich glücklich sein.
Das Interview führte Alina Knoerich.